Sturmtief
sich keine
Menschenmassen. Eher vereinzelt waren Passanten unterwegs und suchten die
Geschäfte auf, die sich in ihrer Individualität von der Uniformität der überall
gleich aussehenden Ketten in den Metropolen unterschieden. Zwei gegenüberliegende
Buchhandlungen bestimmten diesen Teil der Stadt. Da Lüder keine Bücher im
Appartement der Frau gefunden hatte, verzichtete er darauf, in diesen
Geschäften nachzufragen. Langsam schlenderte er über das Kopfsteinpflaster bis
zum Marktplatz, an dessen Stirnseite das Rathaus stand. Der kleine, gemütlich
aussehende Bau mit nur wenigen Rundbogenfenstern und einem Turm wirkte wie ein
liebevolles Accessoire auf einer Modellbahnanlage.
Vor dem Rathaus ging ein Mann in einer grünen Jacke langsam auf und ab, sah dabei den Passanten nach und rauchte eine Zigarette. Er
unterbrach seine Wanderung, als Lüder auf ihn zukam, und sah ihn fragend an.
»Arbeiten Sie hier?«, fragte Lüder mit Blick auf das
Rathaus.
Der Mann nickte. »Ja«, sagte er freundlich und zeigte
über die Schulter auf die unteren Fenster des Gebäudes. »Dort.« Dann hielt er
seine glimmende Zigarette erklärend in die Höhe. »Dort ist das Rauchen
verboten.«
»Sie können dem Laster nicht abschwören?«, fragte
Lüder mit einem verständnisvollem Lächeln.
Der Mann lächelte zurück.
»Darf ich davon ausgehen, dass Sie gelegentlich an der
– nun ja – frischen Luft weilen?« Dabei zog Lüder unmerklich die Nase kraus,
weil ihm als Nichtraucher der Tabakqualm unangenehm in die Nase stieg.
Dem Raucher blieb die feine Ironie verborgen.
Lüder zog das Bild Hannah Eisenbergs hervor. »Haben
Sie diese Frau schon einmal gesehen?«
Der Mann betrachtete die Fotografie eingehend. »Ich
kenne hier sehr viele Leute«, sagte er und entschuldigte sich, dass ihm die
Frau unbekannt sei.
Lüder zeigte als Nächstes ein Bild von Robert
Havenstein.
»Sicher. Den kenne ich«, antwortete der Mann prompt.
»Das ist der Journalist, der gestern in Eckernförde ermordet wurde. Das ging
durch alle Zeitungen.« Er schüttelte mitfühlend den Kopf. »Schlimm.«
»Haben Sie Robert Havenstein schon einmal in Oldenburg
gesehen?«
Jetzt sah der Raucher Lüder ratlos an. »Hier? Nein.
Nicht dass ich wüsste.«
Lüder wünschte ihm noch einen schönen Tag und
schlenderte weiter durch den zweiten Teil der Fußgängerzone. Er versuchte es in
einem großen Textilgeschäft, in einer Eisdiele und auf dem Rückweg in einem
Stehcafé am Marktplatz. Niemand konnte sich an Hannah Eisenberg erinnern. Er
wäre auch überrascht gewesen.
Zur Linken sah er eine Fleischerei, der ein Imbiss
angeschlossen war. Lüder fragte zunächst die Verkäuferin am Tresen. Doch die
schüttelte bedauernd den Kopf. Ein letzter Versuch führte ihn zur Ausgabe im
Imbissbereich. Der große kräftige Mann in der gestreiften Metzgerkleidung warf
nur einen kurzen Blick auf das Bild.
»Kenn ich«, sagte er knapp und widmete sich weiter der
Erledigung der Bestellungen.
»War die Frau bei Ihnen Kunde?«
»Ja.«
»Öfter?«
»Ich hab nicht mitgezählt. Aber sie war nicht nur
einmal hier. Aß immer Spanferkelbrötchen.«
»Das ist eine besondere Delikatesse des Hauses«,
mischte sich eine ältere Dame ein, die neben Lüder stand und neugierig in
Richtung Bild blinzelte. Lüder zeigte ihr die Fotografie. Sie betrachtete sie
eingehend.
»Ich bin oft hier. Dann muss ich nicht kochen«,
erklärte die alte Frau. »Und als Rentnerin hat man ja Zeit, nä?« Sie studierte
das Bild ausführlich. »Ja. Die hab ich auch schon hier gesehn.« Sie zeigte mit
der Hand zur Seite. »Hier – um die Ecke –, da hat sie gesessen.«
»Haben Sie die Frau jemals in Begleitung gesehen?«
»Nee. Die war immer allein. Hab mich schon gewundert.
Die war ja nich von hier. Sonst hätt ich sie gekannt.« Sie schüttelte energisch
ihr graues Haupt. »Nee. Bestimmt. Die is nie in Begleitung hier drin gewesen.
Und inne Stadt hab ich sie auch nie gesehn«, ergänzte sie.
Hannah Eisenberg hatte sich also tatsächlich nicht mit
Robert Havenstein in Oldenburg blicken lassen.
Anschließend machte er sich auf den Weg nach
Geesthacht.
Um diese Jahreszeit war die Autobahn bis Lübeck gut
befahrbar. Dann füllte sie sich, und es entstand trotz des dreispurigen Ausbaus
das gewohnte Gedränge. In Hamburg stand er im Stau, und es ging teilweise nur
im Schritttempo voran. Erst nach dem Abbiegen auf die Marschenautobahn konnte
Lüder wieder beschleunigen.
Geesthacht empfing Lüder mit
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