Sturmtief
deutsche
Kernkraftwerke sprechen? Wir haben hier ein paar technische Probleme gehabt.
Gut. Aber unsere Sicherungseinrichtungen sind sofort darauf angesprungen. Wenn
Sie sich die Störfälle bei Atomkraftwerken betrachten, finden Sie lauter
Ereignisse, die sich ringsum zugetragen haben. Glauben Sie wirklich, namentlich
im Osten achtet man so intensiv auf die Betriebssicherheit? Und dass die
freigesetzten Strahlen an der Bundesgrenze nicht haltmachen, hat Tschernobyl
eindrucksvoll gezeigt.« Von Sohl fasste sich nacheinander an den Fingerspitzen
der linken Hand und zählte auf: »Frankreich, Forsmark in Schweden, Gerona in
Spanien und so weiter. Das habe ich auch Herrn Havenstein gesagt: Wir sollten
lieber Strom unter unseren strengen Sicherheitsauflagen gewinnen, als uns nicht
nur von Nachbarn abhängig zu machen, sondern auch von deren möglicherweise
lascheren Atomaufsicht. Hier ist alles transparent. Aber dort?«
»Ist wirklich alles transparent?«
Von Sohls fülliger Körper straffte sich. Er richtete
sich in seiner Couchecke kerzengerade auf. »Wollen Sie uns etwas unterstellen?«
»Vielleicht hat Robert Havenstein eine Schwachstelle
gefunden.«
»Es gibt nichts Geheimnisvolles«, antworte der
Kraftwerksleiter mit Nachdruck. »Während man früher versucht hat, nicht jede
Kleinigkeit zu veröffentlichen, um nicht unnütz Unruhe zu schaffen, gehen wir
jetzt den Weg der Offenheit.«
»Gilt das auch für die offene Fragestellung, ob die
vermehrte Zahl an Leukämie erkrankter Kinder im Umfeld des Kraftwerks auf Krümmel
zurückzuführen ist?«
»Das ist Quatsch«, antwortete von Sohl erbost. »Alle
seriösen Untersuchungen haben dafür keinen Nachweis erbringen können. Wir
selbst haben ein großes Interesse an der Aufklärung. Trotzdem gibt es keine
Anzeichen dafür, dass dieses Werk der Auslöser war. Je nachdem, wer seine
Interessen unterbringen wollte, wurden die verschiedensten Spekulationen in
Umlauf gebracht.« Von Sohl zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Lüder.
»Merkwürdigerweise wurde der Gedanke, dass die Ursache vielleicht noch auf die
Sprengstoffproduktion zurückgeht, nie weiter verfolgt. Was ist, wenn der
Journalist hier fündig geworden ist?«
»Und wenn er entdeckt hat, dass es doch einen Störfall
gab?« Lüder blieb skeptisch.
»Das kann nicht sein«, beharrte der Kraftwerksleiter.
Lüder lächelte. »Erinnern Sie sich an den Song ›Das
macht doch nichts, das merkt doch keiner‹ des Satirikers Hans Scheibner, in dem
er so treffend singt, dass aus dem Atomkraftwerk ein bisschen ›Oho‹ entwichen
ist?«
»Das ist populistisch. Am Schornstein und an den
Abwässern misst die unabhängige Institution ESN mit Sensoren die Radioaktivität. Und das System als solches ist absolut sicher.
Das ist deutsche Hysterie. Nehmen Sie die Schweden. Denen werden Sie das
Umweltbewusstsein nicht absprechen. Trotzdem sind die Menschen uneingeschränkt
für die Atomkraft. Dort herrscht heile Welt.«
»Mich interessiert, was Robert Havenstein entdeckt
hat«, bohrte Lüder nach.
Von Sohl zuckte die Schultern. »Da kann ich Ihnen
nicht weiterhelfen. Jedenfalls nichts, was mit uns zusammenhängt.« Plötzlich
fuhr er in die Höhe. »Havenstein war ein politischer Journalist. Muss es denn
etwas sein, was mit der Technik zusammenhängt?«
Lüder sah sein Gegenüber an, ohne auf dessen Argument
einzugehen.
»In der öffentlichen Meinung prallen die Argumente für
und wider Atomkraft aufeinander. Hinter den Kulissen zählt aber ganz anderes.«
Von Sohl rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als würde er Geld zählen.
»Die Bürgermeister der kleinen Gemeinden auf der anderen Elbseite opponieren
gegen das AKW . Sie leben in
Niedersachsen und haben nichts von der steuerlichen Ertragskraft von Krümmel.
Die Gewerbesteuer fließt in Geesthachter Kassen. Das Kraftwerk ist ein Goldesel
für die Region. Wenn es läuft. Davon profitiert nicht nur der Stadtkämmerer,
sondern auch die Geschäftsleute und Zulieferer, die Gastronomie und Hotellerie
und viele mehr. Darum finden sich auch nicht viele Kernkraftgegner in der
Einwohnerschaft. Schließlich geht es um rund dreihundert direkte Arbeitsplätze,
um die Familien der Beschäftigten und um die Mitarbeiter der Zulieferbetriebe.
Die Stadt Geesthacht könnte sich ohne die Steuern des Atomkraftwerks vieles
nicht mehr leisten, zum Beispiel das Freibad. Dann wäre da noch der
Finanzminister in Kiel, der sich allein über einen zweistelligen
Millionenbetrag aus der
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