Sturmtief
Die Hauptstraße ist in der Mitte
durch den Platz vor dem Rathaus geteilt. Sie finden mich im nördlichen Teil.«
Wie oft bin ich schon in die entlegensten Winkel des
Landes gefahren, dachte Lüder, als er auf der Autobahn Richtung Rendsburger
Kreuz unterwegs war. Er nannte diesen Abschnitt immer »Sparautobahn«, weil es
eine jener kostengünstiger angelegten Schnellstraßen war, bei denen man auf den
Randstreifen verzichtet hatte. Von der Rader Hochbrücke über den
Nord-Ostsee-Kanal hatte man heute einen herrlichen Weitblick über das Land.
Lüder war versucht, die beiden großen Schiffe anzusehen, die auf der rechten
Seite langsam Richtung Kiel fuhren. Man staunte immer wieder über die hoch
aufgetürmten Container und wunderte sich, dass die Stapel bei unruhiger See
nicht über Bord kippten.
Wie erwartet, war die Autobahn nur mäßig frequentiert
und gestattete ihm ein zügiges Vorankommen. Hinter Schleswig lieferte er sich
ein Rennen mit einem dänischen Mercedes. Es schien, als würde der Fahrer noch
einmal die uneingeschränkte Freiheit auf der Straße auskosten wollen, bevor er
bei Kupfermühle die unsichtbare Grenze überquerte und sich dann an die strenge
Geschwindigkeitsbeschränkung halten musste, die Königin Margrethes
Administration den Nordländern auferlegt hatte.
In Niebüll suchte Lüder einen Parkplatz. Auch hier
galt, wie oft in kleinen Städten, dass man das Zentrum für den Verkehr so
abgegrenzt hatte, dass nur Einheimische und Eingeweihte durch das Labyrinth der
engen Straßen hindurchfanden und auch um versteckte Parkmöglichkeiten wussten.
Lüder fand einen großen Parkplatz zwischen ZOB und Hallenbad. Von dort waren es nur
wenige Schritte am lang gestreckten Verwaltungsgebäude der Volksbank vorbei ins
Zentrum, das aus einer Straße bestand. Hier bot sich ihm das vertraute Bild,
das dem Besucher norddeutscher Kleinstädte begegnet. Im Unterschied zur Hektik
in den großen Metropolen war alles ruhiger. Selbst die Geräuschkulisse schien
gedämpfter. Es schoben sich keine Menschenmassen durch die Straßen, und auch
die gemütlich wirkenden Geschäfte schienen mehr eine Einladung als ein hartes
Verkaufsmarketing auszustrahlen.
Inmitten der Reihe bunter Läden der
unterschiedlichsten Richtungen fand er in einem Ladengeschäft das
Finanzierungsbüro von Albert Völlering. Im Schaufenster versuchten Plakate von
Bausparkassen, Versicherungen und Teilzahlungsbanken die Interessenten
anzulocken. Lüders erster Eindruck war, dass hier vorwiegend der Endverbraucher
angesprochen wurde. Ihm fiel schwer zu glauben, dass der Mann mit der Halbglatze,
der an einem einzelnen Schreibtisch im Ladengeschäft saß und eine
Computertastatur bearbeitete, der große Drahtzieher für russische Investoren im
Bereich der alternativen Energien sein sollte, wie Herwig von Sohl, der Leiter
des Atomkraftwerks, behauptet hatte.
Völlering sah auf, als Lüder eintrat.
»Moin. Mein Name ist Lüders vom Landeskriminalamt«,
stellte er sich vor und legte Völlering eine Visitenkarte hin. Der Mann fragte
gar nicht erst nach einem Ausweis und bot Lüder Platz gegenüber dem Schreibtisch
an. Ungefragt stand er auf, holte von einem Sideboard eine leere Tasse, stellte
sie vor Lüder hin, schenkte aus einer Kanne, die auf einer Kaffeemaschine leise
vor sich hin blubberte, ein und fragte Lüder, wie er den Kaffee haben mochte.
Nachdem beide Männer einen Schluck getrunken hatten,
musterte Völlering Lüder neugierig.
»Ich habe vor Kurzem ein Gespräch mit dem Management
des Atomkraftwerks Krümmel geführt«, begann Lüder und sah ein erschrecktes
Aufblitzen in den Augen seines Gegenübers. Völlering hatte ein schwammiges
Gesicht, das von einem zarten Rosa überzogen war. Die blauen Augen lagen tief
und waren von einer Falte unterhalb des Lides begrenzt. Lüder bemerkte, wie der
Mann vor Aufregung kaum merklich mit den Ohren wackelte.
»Es geht um den Protest, der sich in zunehmendem Maße
im Land gegen Krümmel formiert hat. In diesem Zusammenhang wurde auch Ihr Name
genannt.« Lüder ließ unerwähnt, dass er zuvor in den internen Daten nach
»Albert Völlering« gesucht hatte. Aber der Mann war dort nicht erfasst.
Völlering schluckte, bevor er antwortete. »Was hat das
mit mir zu tun?«
»Sie sind sehr engagiert in der Bürgerinitiative.«
Völlering hatte seine Hände wie zum Gebet gefaltet und
auf den Schreibtisch vor sich gelegt. »Wenn wir alles schweigend hinnehmen,
wird unsere Welt irgendwann zerstört sein.
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