Sturmwelten 01
kleinen Gruppe her. Immer wieder befingerte sie ihre Wange, die nun ein wenig brannte, aber keine Löcher oder Wunden aufwies, wie sie jedes Mal erstaunt feststellte, auch wenn sie es kaum glauben konnte. Sie hatte den Schuss gesehen, gehört, den Treffer gespürt. Sie wusste, dass sie tot sein sollte. Etwas war geschehen; etwas, wofür sie keine Worte hatte, war mit ihr geschehen.
Die kleine Gruppe lief weiter. Sie erreichten den Innenhof, und die befreiten Küchensklaven erstarrten angesichts des Todes und der Gewalt, die sich in diesem Bild vor ihnen ausbreiteten.
»Ihr Ahnen«, flüsterte Brizula, und ihre Lippen zitterten. Schnell führte Sinao sie weiter, hinaus aus dem Fort, fort von dem Ort der Erniedrigung, der Angst und des Todes.
Sie liefen den Klippenpfad hinab. Vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben, wie Sinao erkannte, wiewohl sie es kaum glauben konnte. Von ihrer luftigen Warte aus sahen sie die Sklaven, die sich am Strand versammelt hatten. Ein kleines Grüppchen von neunzehn Männern und Frauen stand etwas abseits.
Anscheinend hatten die Kämpfe der Blassnasen in der Bucht geendet, während sie in der Küche gewesen war. Es gab keine Schüsse mehr, weder von Kanonen noch von Gewehren. Zwei der Schiffe segelten davon, alle Segel gesetzt, und eines fehlte, wie Sinao bemerkte.
Und drei kleine Ruderboote hielten auf den Strand zu. Der große Fremde hat Wort gehalten. Sie haben gewonnen, und jetzt holen sie uns zu den Schiffen.
Als sie die kleine Gruppe erreichte, die etwas oberhalb des Strandes stand, öffnete sich für sie eine Gasse. Als wollten die anderen sie in die Mitte der Gruppe leiten. Ihre Gesichter waren traurig; nein, sie waren voller Mitleid, und alle schauten Sinao an. Ihr Herz setzte aus, verpasste einen Schlag. Ein unwillkürliches Zittern überkam sie, als sie durch das Spalier lief, das die ehemaligen Sklaven bildeten.
In ihrer Mitte lag Majagua. Jemand hatte ihm die Seite mit grünen Blättern belegt, zwischen denen pulsierend Blut emporquoll. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.
Fassungslos ließ sie alles fallen, was sie getragen hatte, und stürzte zu ihm. Er lächelte, als er sie erkannte, doch sie sah die Schmerzen in seiner Miene, hörte sie in seinem abgehackten Atem.
»Was … was … warum?« Die Worte flohen vor ihr und ergaben keinen Sinn mehr, denn auch die Welt hatte ihren Sinn verloren. Vorsichtig hob sie den Blätterverband an und keuchte, als sie die Wunde sah.
»Tangye«, erklärte Majagua mühsam. Tränen füllten Sinaos Augen. Die Wunde war furchtbar, eine Schusswunde, aus der unerbittlich Majaguas Leben floss und auf die staubige Erde tropfte.
»Geht!«, schrie sie wie von Sinnen. »Geht alle! Verschwindet!«
Die Tränen nahmen ihr die Sicht, aber sie hörte das Gemurmel und die Schritte. Vorsichtig kniete sie neben dem Sterbenden nieder und nahm sanft seinen Kopf in ihren Schoss.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie und strich über sein Haar.
»Hequia, die Herrin … sie lässt mich nicht fort. Tangye nimmt mich mit sich in die Finsterwelt«, flüsterte der Sterbende.
»Nein«, widersprach Sinao heftig. »Nein, du bist frei. Du gehst zu deinen Ahnen, und sie werden stolz sein, dich in ihrer Mitte zu haben. Du bist ein Krieger, Chenao . Der mutigste Krieger von allen.«
Er lächelte wieder, und Sinao schluchzte auf. Seine weißen Zähne waren blutig rot. Ihre Tränen benetzten ihre Wangen, liefen herab und fielen auf sein Gesicht.
»Du bist frei«, wiederholte sie. Er blickte sie an, doch seine Augen schienen sie nicht zu finden.
»Frei«, flüsterte er. »Halt mich.«
Sie nahm ihn in die Arme, flüsterte Koseworte, streichelte ihn, bis sein letzter Atemzug über ihre Haut strich und sein Geist in andere Gestade reiste, fortging in eine andere Welt und sie allein zurückließ. Es ist nicht gerecht, Anui, es ist nicht gerecht. ES IST NICHT GERECHT!
Über den tiefen Fluten ihrer Trauer schwebte ein Funke des Zorns. In ihrem Inneren braute sich ein Gewitter zusammen. Blitze zuckten durch ihren Geist, Bilder von Majagua, Bilder von Tangye, Bilder von der Insel und dem Blutzoll, den sie immer wieder gefordert hatte. Donnernd brach das Unwetter sich seine Bahn und riss ihre Beherrschung fort. Sie legte den Kopf in den Nacken und schrie, jagte Zorn und Trauer und Einsamkeit und Hass mit diesem tierischen Schrei aus sich heraus.
Um sie herum brodelte die Luft. Sand wurde emporgewirbelt, tanzte um das Paar. Steine stieben auf, rasten in die
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