Sturmwelten 02. Unter schwarzen Segeln
auch wenn Roxane die verräterischen roten Flecken auf ihren Wangen sah.
»Segel gesichtet, Thay, Steuerbord voraus. Der Ausguck meldet einen Dreimaster, aber ich konnte es bislang nicht bestätigen.«
»Steuerbord? Wir haben den Vorteil des Windes, nicht wahr?«, fragte Roxane, obwohl sie die Antwort natürlich bereits kannte.
»Ja, Thay.«
Es kostete Roxane nicht viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen: »Lassen Sie Kurs auf das Schiff setzen, Leutnant. Wir werden uns das genauer ansehen. Und lassen Sie die Bramsegel und Oberbramsegel setzen. Ich komme an Deck.«
»Bramsegel und Oberbramsegel setzen lassen, Kurs auf das Schiff setzen lassen. Aye, aye, Thay!«
Sofort verließ Tola die Kajüte, und schon bald ertönten die Befehle, die weitergegeben wurden, auf dem ganzen Schiff, und das Singen der Pfeifen erklang. Während Füße über die Planken donnerten, erhob sich Roxane.
»Wollen Sie mich an Deck begleiten? Wir können die erleichterten
Bedingungen Ihrer Haft sofort beginnen lassen, wenn Sie das wünschen.«
»Was ist mit Bihrâd?«
»Er wird seinen Teil des Freigangs erhalten. Ich stehe zu meinem Wort.«
Er nickte. Roxane deutete zur Tür, während sie ihren alten Zweispitz in die Hand nahm. In der Eile und Konfusion auf Lessan hatte sie sich keinen würdigen Ersatz anfertigen lassen können, aber für diese eine Fahrt wäre ein Dreispitz wohl auch nicht passend gewesen, obwohl sie sicher war, dass sie schon bald jedes noch so kleine Zeichen von Status und Vermögen brauchen würde, das sie auftreiben konnte. Vielleicht kann ich mir in der Heimat noch eine Uniform schneidern lassen, bevor man mich vor das Kriegsgericht stellt . Der Gedanke ließ sie bitter grinsen. Es kann doch nicht angehen, dass sie mich in diesem alten Frack hier hängen !
Mit Jaquento an ihrer Seite betrat sie das Hauptdeck und erklomm die Stufen zum Poopdeck. Alle Anwesenden salutierten, und Tola erstattete als Diensthabende noch einmal detailliert Bericht. Roxane erwiderte den Gruß, verschränkte dann die Arme auf dem Rücken und nahm mit einem Nicken das Kommando über das Schiff an sich.
In den Rahen arbeiteten die Toppsgasten daran, die Segel zu setzen, während die Mantikor den Kurs leicht geändert hatte. Noch steuerten sie das unbekannte Schiff nicht direkt an, sondern blieben auf dessen Luvseite, wodurch sie im Falle eines Konfliktes die Wahl hatten, ob sie angreifen oder sich zurückziehen wollten. Roxane beobachtete die Vorgänge an Bord genau, und zu ihrer Zufriedenheit lief alles exakt nach Vorschrift ab; Tola hatte die Befehle akkurat umgesetzt und zeigte wieder einmal das Potenzial, das Roxane von Anfang an in ihr gesehen und zu schätzen gelernt hatte. Sie war sicher, dass dem Mädchen eine großartige Karriere in der Königlichen
Marine von Thaynric bevorstand, und der Gedanke erfüllte sie mit einem seltsamen Stolz.
Schon bald waren die Segel gesetzt. Noch immer zeigte sich, wie gut eingespielt und erfahren die Mannschaft der Fregatte war, denn es bedurfte keiner Korrekturen oder Nachbesserungen. Die Segel saßen stramm, und die Mantikor machte gute Fahrt.
»Würden Sie mir bitte Ihr Fernrohr leihen, Leutnant«, sagte Roxane und nahm das Instrument von Tola entgegen. Durch das Fernrohr konnte Roxane in der Tat drei Masten erkennen, es handelte sich also um ein Vollschiff. Doch noch war nicht auszumachen, ob es ein Kriegsschiff oder ein Handelsschiff war. So weit auf dem Ozean war eine Patrouille unwahrscheinlich, und Roxane war kein thaynrisches Kriegsschiff bekannt, das derzeit von der Sturmwelt gen Corbane fuhr. Natürlich mochte es eine Fahrt geben, von der man ihr nichts mitgeteilt hatte, aber sehr wahrscheinlich erschien ihr diese Option nicht.
Blieb entweder ein Kriegsschiff einer anderen Nation, und damit fast sicher ein Feind, oder ein Handelsschiff. War es ein géronaischer oder hiscadischer Händler, so war ihnen ein gutes Prisengeld sicher. Die unspektakulärste, aber dennoch wahrscheinlichste Begegnung wäre ein thaynrisches Handelsschiff. Aber noch immer konnte Roxane keine Einzelheiten ausmachen, bis sie das Fernrohr schließlich an Tola zurückgab.
In diesem Augenblick betrat Leutnant Cudden das Deck, der sich hastig den roten Uniformrock zuknöpfte.
»Und?«
»Was kann ich für Sie tun, Thay?«, fragte die junge Kapitänin eisig ob seiner Unhöflichkeit.
»Ich bitte um Verzeihung, Thay. Man hat mich geweckt, was selbstverständlich keine Entschuldigung für Disziplinlosigkeit
ist.
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