Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
gebraucht.
Also kletterte nur der Maestre an der Mauer hoch. Er wirkte wie ein Äffchen, so schnell, wie er sich von einem
Stein zum nächsten schwang. Seine nackten Füße fanden auch in engen Ritzen halt, und Sinao konnte die Muskeln an seinen Unterarmen sehen, die sich unter der Haut spannten, als er sich Stück für Stück hochzog. Sie war sicher, dass sie keine fünf Schritt vom Boden hoch gekommen wäre, aber Manoel hing an der Wand, als würde die Welt nicht an ihm ziehen.
Er kletterte sechzig Herzschläge lang, dann fand er sogar die Zeit, zu ihr hinabzusehen und zu grinsen, bevor er sich mit einer schnellen Bewegung die Haare aus der Stirn strich und weiterkletterte. Obwohl er so viele düstere Vorahnungen im Hinblick auf ihr Vorhaben gehabt hatte und zunächst überhaupt nicht begeistert von der Idee gewesen war, dass sie Kapitän Bercons trauen sollten, schien er nun doch Spaß an der Sache gefunden zu haben.
Er ging noch einmal auf einem winzigen Mauervorsprung in die Knie, dann flogen seine Füße mit Schwung über die Kante des Fenstersimses, und er hockte darauf wie ein Vogel mit zu langen Beinen. Sie sah, wie Manoel sich vorbeugte und in den Raum spähte.
Unvermittelt explodierte das Fenster in tausend Scherben, und Manoel wurde zurückgeschleudert. Mit ausgestreckten Armen und wild rudernden Beinen stürzte er rücklings herab.
Sinao stieß einen kleinen, erschreckten Schrei aus, doch schon spürte sie, wie Vigoris durch sie hindurchfloss. Augenblicklich übernahmen Sinaos Instinkte die Kontrolle, und sie waren es auch, die den Fluss der Vigoris lenkten.
Manoels Sturz verlangsamte sich, als ihn die Welle der Magie erreichte, kurz, bevor er auf den Boden prallte. Obwohl er nicht mit voller Wucht aufschlug, bremste ihn die Vigoris doch zu spät, um den Fall vollends abzufedern. Sinao spürte einen dumpfen Stoß in ihrem Leib, und dann war
die Vigoris fort, und Manoel rollte, sich überschlagend, über den flachen Rasen.
Sinao riss sich von dem Anblick los und sah zum Fenster hinauf. Ein Gesicht erschien dort, aber nicht das Gesicht des Admirals, auf das sie gehofft hatte, sondern das eines jungen Mannes mit hellen Haaren und mit gerunzelter Stirn. Er blickte die Paranao an, dann schob sich sein Arm über den Sims. In der Hand hielt er eine Pistole, deren Mündung nun direkt auf Sinao wies. Wie gebannt starrte sie auf die Waffe. Sie wusste, dass sie die Vigoris rufen musste, aber ihr Inneres war wie leergefegt.
Ein dunkler Gegenstand schlug gegen den Kopf des Mannes, riss ihn herum. Der Lauf der Pistole folgte der Bewegung des Körpers. Flammen und Rauch blühten vor Sinaos Augen aus der Mündung, dann hörte sie den Knall, und sie zuckte zusammen. Der Mann verschwand aus ihrem Blickfeld.
»Er will ihn umbringen«, rief Manoel, der sich auf die Knie gerollt hatte und mit einer Hand sein blutendes Gesicht hielt. »Er versucht, Thyrane umzubringen!«
Der Maestre kam taumelnd auf die Beine, lief einige Schritte zurück zur Mauer, dann knickte er ein und fiel auf die Seite. Benommen betrachtete er das Blut an seiner Hand.
»Und er hat auf mich geschossen.«
Sinao sprang neben ihn. Die linke Seite seines Kopfes war blutüberströmt. Eine lange, hässliche Wunde zog sich von seiner Schläfe bis zu seinem Hinterkopf, und aus der Verletzung pulsierte hell das Blut.
»Die Zemi mögen uns beistehen! Mano!«, presste Sinao erschrocken hervor.
»Mir … geht es gut. Hilf …«
Sinao schluckte und rang um Gelassenheit. Kopfwunden bluten schlimm, erinnerte sie sich. Aber sie sind oft nicht so schlimm.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, um die Panik niederzukämpfen, die in ihr aufsteigen wollte.
Obwohl Manoel Schwierigkeiten hatte, sie anzusehen, nickte er. Sinao schaute zum Fenster hoch, das unerreichbar zu sein schien. Manoel mochte die Wand hochklettern können, sie konnte es ganz sicher nicht.
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, wollte ihre Gedanken vertreiben und die Vernunft durch Chaos ersetzen. Aber sie ließ es nicht zu. Ein Mörder, dachte sie. Die Compagnie hat einen Mörder geschickt, um den alten Mann zu töten. Und wenn ich nicht eingreife, dann wird es ihm bestimmt gelingen. Ihr Herz wurde hart und kalt. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.
Sie öffnete sich für die Vigoris, wie Manoel es ihr gezeigt hatte. Gab ihr Gestalt, zwang sie in Form, leitete sie nach ihrem eigenen Willen. Die Magie wusch über ihren Körper hinweg, und tief in ihr öffnete sich das Portal unter
Weitere Kostenlose Bücher