Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
dass Heimat da ist, wo das Herz eines Menschen wohnt.« Bei diesen Worten drückte Anki Roberts Arm. Er legte seine Hand auf ihre und bedachte sie mit seinem so einnehmenden Lächeln, dass sie sogar das Essen vergaß.
Als sie sich wieder dem Rijstevlaai zuwandte, brannte in ihrem Herzen ein unangenehmes Feuer. Erinnerungen wühlten sie auf. Damals hatte Tilla sie erst gebeten, dann angefleht, das Angebot der Chabenskis ja nicht auszuschlagen. Schließlich hatte sie ihr mit unbarmherzigen Worten ein so düsteres Bild ihrer Zukunft gemalt, dass Anki sich gezwungen gesehen hatte, nach Petrograd zu reisen. Es war schrecklich für sie gewesen, die Wahrheit zu erfahren, ihre Geschwister zu verlassen und zu einer wildfremden Familie in eine unbekannte Stadt in einem fernen Land zu ziehen. Doch wie es bereits im Alten Testament hieß, hatte Gott es zuwege gebracht, aus etwas Schlechtem Gutes zu vollbringen. Anki hatte sich rasch eingewöhnt und liebte die ihr anvertrauten Mädchen. Sie hatte den Respekt ihrer Arbeitgeber und der anderen Angestellten gewonnen und nun auch noch die Liebe eines wunderbaren Mannes. Vermutlich würde sie Tilla niemals genug dafür danken können, dass sie sie damals im Grunde aus dem Haus gejagt hatte!
Anki beendete ihre Mahlzeit und lehnte sich zufrieden auf ihrem Stuhl zurück, während die Männer und auch Mathilde sich eine weitere Portion gönnten. Vergnügt sah sie sich in dem Speiseraum um, bewunderte die Gemälde an den Wänden, das weiß schimmernde Meißener Porzellan hinter einer Glasvitrine und eine antike, bemalte Kommode, wahrscheinlich ein Erbstück der Familie.
Robert und sein Vater unterhielten sich angeregt, Oskar aß, wobei Anki sich lächelnd fragte, wohin der schlanke Kerl die großen Portionen steckte, und sie schloss für einen Augenblick behaglich die Augen. Niemals hätte sie zu träumen gewagt, dass sie sich bei ihrem ersten Treffen mit ihren zukünftigen Schwiegereltern so wohlfühlen würde. Doch das Ehepaar hatte sie herrlich unkompliziert aufgenommen und liebte offenbar ein schlichtes Leben, obwohl sie über ein ansehnliches Einkommen verfügen mussten. Anki fühlte sich fast ebenso angenommen wie damals in Koudekerke, als ihre Stiefmutter noch am Leben gewesen war und bevor Tilla sie in das schreckliche Geheimnis eingeweiht hatte …
Ein Knall störte das gemütliche Miteinander. Erschrocken zuckte Anki zusammen. In ihrem Rücken klirrte es. Etwas Dunkles flog an ihr vorbei, zertrümmerte ihren Teller und fiel polternd vom Tisch. Ein zweiter lauter Schlag folgte und das Glas der Vitrine mitsamt dem Porzellan darin zersprang in tausend Scherben. Anki glaubte, das Geschirr qualvoll aufschreien zu hören. Doch es war Mathilde, die schrie. Einer der Männer rief einen Befehl.
Anki zitterte am ganzen Leib und war vor Schreck wie erstarrt. Plötzlich umfingen sie zwei starke Arme und rissen sie derb vom Stuhl. Unsanft landete sie auf Robert, der sie unter den Tisch schob und sich schützend auf sie legte. Wieder schien etwas zu explodieren, die Deckenlampe zerplatzte und es wurde nahezu dunkel.
Rohes Grölen mischte sich mit dem Schluchzen von Mathilde und den beruhigend gemurmelten Worten ihres Mannes. Ein kalter Wind wehte die Servietten vom Tisch und blies die Kerzen eines Kandelabers aus, der auf der antiken Kommode stand.
»Verschwindet von hier!«, brüllte draußen auf der Straße jemand. »Wir wollen euch Deutsche hier nicht haben«, unterstützte eine raue Frauenstimme den Schreier, die von einer jung klingenden, männlichen Stimme übertönt wurde: »Raus mit den reichen Deutschen. Erst vermehrt ihr das Geld des Zaren, jetzt tötet ihr unsere Brüder!« Durch die zerschlagenen Fenster drang aus einiger Entfernung erneut das Splittern von Glas, auch die aufgebrachten Schreihälse entfernten sich zunehmend. Offenbar hatten die Randalierer ein neues Ziel gefunden.
Anki erwachte aus ihrer entsetzten Erstarrung und öffnete die Augen. Es war dunkel, dennoch sah sie Roberts Gesicht nah vor sich.
»Bist du verletzt, meine Liebe?«, flüsterte er gepresst.
Sie benötigte einen Moment, ehe sie wusste, wie sie seine besorgte Frage beantworten sollte. Ihre Stimme zitterte nicht weniger als sie selbst. »Ich glaube nicht. Dank deines Eingreifens.«
»Gott sei Dank.« Er beugte sich vor, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er sich von ihr rollte und vorsichtig aufstand. Dabei ließ er die Fensterfront keinen Augenblick aus den Augen. Inzwischen war es
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