Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
Folge der mangelnden Anerkennung als Pflegesohn dieser Familie? Umso erstaunlicher, dass ihr zwei zusammengefunden habt, meine ich. Oder ist es deshalb umso weniger verwunderlich?«
»Darüber unterhalten wir uns morgen«, wehrte Demy ab und ließ die Freundin gehen.
Theodor, mit einer Taschenuhr in der Hand, trat wieder zu ihr. »Leider muss ich zu einem Termin. Ich möchte mich verabschieden, da ich morgen an die Front zurückkehre.«
»Ich danke Ihnen!«, erwiderte Demy und versuchte all ihre Dankbarkeit für seine Fürsorge und Rücksichtnahme in diese drei Worte zu legen.
Theodor berührte mit seinen Lippen sanft Demys Fingerknöchel, ehe er sich ruckartig abwandte. Das Dienstmädchen und sie blickten dem Hauptmann nach, als er hinter Margarete das Grundstück verließ.
»Was für ein sympathischer Mann!«, sprach Henny aus, was Demy dachte.
Kapitel 25
Petrograd, Russland,
Oktober 1914
Die Kutsche der Chabenskis rollte über die Nikolaj-Brücke 23 auf die Wassiljewski-Insel hinüber, deren quadratisch angelegten Häuserblocks man deutlich ansah, dass das alte St. Petersburg auf dem Reißbrett geplant worden war. Es hieß, die Stadt sei auf menschlichen Gebeinen errichtet, was daher rührte, dass Tausende Leibeigene zu ihrem Bau zwangsrekrutiert worden waren. Sie hatten in der Wildnis auf dem sumpfigen Boden in überfüllten und unhygienischen Schilfhütten kampiert und waren an Skorbut, Ruhr und Malaria gestorben oder von Wölfen angegriffen worden. Die Zahl der Toten musste bei mindestens 25.000 liegen, so wusste Anki.
Peter der Große hatte 1703 die sumpfige Nevamündung, die damals zu Schweden gehörte – gegen das er Krieg führte –, als Standort für seine Traumstadt ausgesucht. Da er das Einpoldern in den Niederlanden studiert hatte, wollte er eine Stadt nach dem Vorbild Amsterdams bauen, weshalb er ihr auch einen niederländischen Namen gab: Sankt Pieterburch. Peter der Große zwang den Adel, sich in seiner neuen Stadt niederzulassen, was diesen ein Vermögen kostete. Im Laufe der Jahre wurde aus der ursprünglichen Stadt zwischen dem Finnischen Meerbusen und der Kleinen und Großen Neva das Wissenschafts- und Kulturzentrum des russischen Reichs mit den meisten Fakultäten der Petrograder Universität und weiteren Akademien. Vor allem im Ostteil der Insel ballten sich die Wohnungen der Studenten und Professoren. Zudem wohnten dort viele Deutsche mit einer eigenen, evangelisch-lutherischen Kirche, der St. Katherinenkirche. Die in exakten Quadraten angelegten Straßenzüge erleichterten die Orientierung, zumal die Querstraßen zu den Boulevards simpel der Reihe nach durchnummeriert waren.
Alex lenkte die Kutsche in Richtung der deutschen Kirche, hielt dann aber in einer der Linien-Straßen vor einem schmuck hergerichteten Wohngebäude. Anki warf einen Blick aus dem Fenster und fragte sich, weshalb die Buschs auf der Wassilijewski-Insel wohnten und nicht im Zentrum, wo sich das Architekturbüro von Roberts Vater befand. Vielleicht wollten sie ihren beiden studierenden Söhnen eine Anfahrt mit der Straßenbahn ersparen. Oder es gefiel ihnen trotz des ständig über die Insel pfeifenden Windes in diesem Rajon, der vermutlich am ehesten den Charme einer Hafenstadt innehatte.
Alex öffnete die Kutschtür und bot ihr die Hand als Hilfe. Weil sie sich für den ersten Besuch bei den Buschs für einen modisch eng geschnittenen, kieselfarbigen Faltenrock entschieden hatte, nahm sie die Hilfestellung dankbar an. Kaum auf der Straße zog sie ihre mit Spitze verzierte Bluse glatt, deren Ärmel nur bis zu den Ellenbogen reichten.
»Und ich soll dich wirklich nicht abholen?«, fragte Alex das zweite Mal mit hörbar besorgtem Tonfall.
»Robert versprach mir, mich mit dem Automobil seines Vaters zurückzubringen. Vielen Dank, Alex.«
»In den Straßen herrscht Unruhe. Der Krieg, die Kriegsgegner, die Spinner, die auch in den fast hunderttausend hier lebenden Deutschen ihre Feinde sehen …« Alex sprach nicht weiter, hatte aber Ankis ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt.
»Weißt du mehr?«, fragte sie leise nach, woraufhin der Kutscher lediglich die Schultern hochzog. Eine kalte Windbö fegte durch die Straße, zerrte an ihrem Rock und Mantel und wirbelte eine Flut von bunten Blättern auf. Anki wusste nicht, wie politisch aktiv Alex war, doch dass er gelegentlich über Informationen verfügte, die anderen Einwohnern der Stadt abgingen, hatte sie mehr als einmal stutzig gemacht. Er war nicht nur der einfache
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