Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
kannte er ihre und Hannes’ Geschichte und wusste um ihre erneute Zwangsverlobung mit einem Mann, von dem er wohl ebenso wenig hielt wie ein Großteil der Berliner Bürgerschaft.
»Wissen Sie …«, begann sie, nachdem sie sich ihre Worte sorgfältig zurechtgelegt hatte, kam aber nicht weiter. Rika stürmte laut kreischend aus der Seitentür, stolperte über die Schwelle und fiel der Länge nach hin. Erschrocken sprang Demy auf. Theodor war noch schneller bei dem schluchzenden Mädchen und half ihr auf die Beine.
Rika musterte den Uniformierten, knickste und lief hastig zu Demy. »Komm schnell! Überall ist Blut!«, rief sie aus und zerrte an Demys Bluse, die sie dadurch aus dem Rockbund löste.
»Blut? Wovon sprichst du?«, fuhr Demy Rika an und befreite sich energisch aus dem Griff der Schwester.
»Tilla! Ihr Bett ist voll Blut. Ich glaube, sie ist tot!«
Kapitel 41
Petrograd, Russland,
August 1915
Das vergilbte, fleckige Papier raschelte in Ankis Hand, während sie dem Uniformierten fassungslos nachschaute, bis die länger werdenden Schatten der Häuserfronten ihn verschluckten. Erneut glitt ihr Blick auf das zerknitterte Blatt in ihrer Hand. Die akkuraten Buchstaben, die Oberst Chabenski niedergeschrieben hatte, waren noch immer zu sehen, selbst wenn nicht mehr alle der für seine Frau und die Töchter gedachten Worte zu entziffern waren. Ein eigentümliches Gefühl beschlich Anki. Sie hielt den Liebesbeweis eines Mannes in ihren Händen, der nur ein paar Tage, vielleicht auch nur Stunden vor seiner Ehefrau verstorben war, für die er diese Zeilen geschrieben hatte.
»Sie haben sich bei Gott im Himmel wiedergesehen«, murmelte sie. Unschlüssig drehte sie sich zur offenen Tür um. Was sollte sie nur mit dem Brief anfangen? War es sinnvoll, ihn Oberst Chabenskis Mutter zu übergeben? Oder durfte sie ihn Nina überlassen, damit sie gemeinsam mit ihren Schwestern die letzten Zeilen zu entziffern versuchte, die ihr Vater vor seinem Tod für sie verfasst hatte?
Wieder warf Anki einen Blick auf den Brief. Schmutzflecken, Wasserflecken, vielleicht sogar angetrocknetes Blut ließen ihn abstoßend aussehen, dennoch hielt sie ihn nahezu ehrfürchtig fest. Die privaten Gegenstände des Obersts waren bereits vor Wochen eingetroffen und hatten erneut einen Strom von Tränen bei den Mädchen, aber auch bei Anki ausgelöst. Weshalb erreichte sie dieser Brief erst jetzt? War er auf dem langen Weg mit der Feldpost irgendwo liegen geblieben?
Anki drehte das Blatt und stellte verwundert fest, dass sich die letzten Zeilen von den vorherigen unterschieden. Die Sätze am unteren Papierrand waren in einer anderen Schrift verfasst. Ob ein Kamerad des Obersts der Fürstin mitteilen wollte, dass und wie ihr Mann gestorben war? Anki drehte sich dem Lichtschein zu. Niemand konnte ihr verübeln, wenn sie diese zusätzlichen Worte las, immerhin stammten sie nicht aus der Feder des Fürsten.
Oberst Chabenski bat mich kurz vor seinem Tode, diesen Brief an seine Familie zu überstellen. Als deutscher Arzt war es mir lange nicht möglich, seinem letzten Wunsch nachzukommen. Nun, in russischer Gefangenschaft, löse ich mein Versprechen ein, zumal mir die Familie bekannt ist.
Robert Busch.
»Robert?«, hauchte sie. Das Papier drohte ihr aus der Hand zu fallen. Robert! Ihre Gedanken fuhren Karussell, Hitze- und Kältewellen durchrieselten sie abwechselnd. Robert befand sich in Russland, aber seinen Zeilen nach in einer gefährlichen Lage! Sie musste ihn finden!
Zutiefst aufgewühlt lief Anki die Stufen hinunter und auf die Straße, doch der Bote war längst verschwunden. Sie musste unbedingt herausfinden, wo die Feldpost für Petrograd abgefertigt wurde. Noch während sich diese Überlegungen in ihren Gedanken formten, wusste sie: Niemand würde eine Veranlassung sehen, ausgerechnet einem deutschen Kindermädchen zu erzählen, wo ein deutscher Soldat in Kriegsgefangenschaft saß! Und selbst wenn sie seinen Aufenthaltsort herausfand – was konnte sie dann schon tun? Entmutigt ließ sie sich auf die unterste Stufe fallen.
Die Chabenskis hätten ihr bestimmt beigestanden, aber sie waren tot. Ob sie sich an Ljudmila wenden konnte? Immerhin war sie eine Hofdame der Zarentöchter. Ihr oder ihren Eltern würde man vielleicht Auskunft erteilen. Anki blieb ihrer Überlegung zum Trotz reglos auf der Stufe sitzen. Seit jenem Boule-Vormittag war das Verhältnis zu Ljudmila deutlich abgekühlt. Eine unsichtbare Wand, die sie weder zu benennen
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