Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
die Liebe wegzuwischen, die sie bis dahin für ihren Vater empfunden hatte. Hatte er sich auch Rika genähert, wie er es bei Tilla getan und bei Anki und ihr versucht hatte?
»Ich sah am Tag meines Abschieds, wie er Rika anstarrte. Es tut mir leid, Demy. Ich will nicht das schöne Bild zerstören, das du von Vater hast, aber ich musste annehmen, dass auch Rika nicht mehr unberührt war. Also kehrte ich in der darauffolgenden Nacht zurück.«
»Wolltest du Rika heimlich mitnehmen? Ohne Vater zu informieren?«, fragte Demy tonlos.
»Nein.«
Wieder wurde es still. Irgendwann richtete Demy sich auf, um sich ängstlich zu vergewissern, ob ihre Schwester überhaupt noch atmete. Diese blickte zum Betthimmel hinauf und die allmählich hereinbrechende Dunkelheit verbarg ihre eingesunkenen Augen und die wächserne Blässe ihrer Haut. Deutlicher als zuvor traten ihre noch jungen, schönen Gesichtszüge hervor.
»Ich war so voller Wut, voller Verzweiflung, voller Selbstvorwürfe, weil ich Rika nicht sofort mitgenommen hatte. Als ich ins Gutshaus zurückkehrte, war Vater nicht da. Ich vermutete ihn in der Schenke im Dorf und wollte ihn bei seiner Rückkehr abpassen. Als ich auf der Brücke über die Gracht ankam, stand mir plötzlich vollkommen klar vor Augen, was ich tun musste. Vater durfte niemals wieder einem Mädchen Gewalt antun.«
»Die Gracht …«, flüsterte Demy und atmete so heftig, als habe sie Minuten unter Wasser zugebracht und müsse nun ihre Lungen mit lebensnotwendigem Sauerstoff füllen.
»Es war ganz einfach. Vater war vollkommen betrunken und torkelte über die Brücke. Ich stieß ihn kräftig und er prallte mit dem Kopf gegen das Geländer. Danach musste ich nur noch seine Füße anheben, sodass er über die Brüstung stürzte. Anschließend reiste ich Hals über Kopf ab.«
Demy starrte ihre Schwester fassungslos an. Das Gefühlschaos in ihrem Inneren ließ sich nicht mehr besänftigen. Ihre Gedanken jagten sich gegenseitig wild im Kreis herum. Unfähig, ein Wort herauszubringen, kauerte sie vor dem Bett, geschüttelt von kalten und heißen Schauern.
»Du kannst meine Tat verurteilen, Demy. Aber bitte verachte nicht mich. Es war der einzige Ausweg, den ich sah, um meine Schwestern zu beschützen. Glaub mir, das alles ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich war nicht nur ständig auf Reisen, weil ich Josephs Gegenwart nicht ertrug, sondern weil ich vor mir selbst flüchten wollte. Vor meiner Erinnerung und den Vorwürfen, die mich innerlich zerfressen.« Tillas Stimme erstarb.
Demy schwieg hilflos. Aber was gab es schon zu sagen? Dass sie verstand, was Tilla getan hatte? Oder dass sie es verurteilte? Beides war der Fall und doch schien nichts davon richtig zu sein.
»Verzeih mir«, flüsterte die Ältere in das Schweigen hinein.
»Ich habe dir nichts zu verzeihen. Du hast aus Fürsorge und Liebe gehandelt, hast mich beschützt und vor Schrecklichem bewahrt. Ich habe so vieles nicht begriffen. Das trennte mich von dir.« Heiße Tränen liefen Demy über die Wangen, während in ihrem Inneren ein brennender Schmerz tobte. »Aber du kannst Gott um Vergebung bitten«, brachte sie schließlich das Gespräch auf das, was ihr auf der Seele brannte und was doch so schwer auszusprechen war. »Ich möchte dich nämlich im Himmel wiedersehen und dort mit dir lachen, so wie wir es früher getan haben, als wir noch jünger waren.«
»Das habe ich auch lange Zeit vor mir hergeschoben, nicht wahr? Zu lange … Ich habe schreckliche Dinge getan.«
»Aber kein Fehler und keine Schuld ist zu groß, als dass sie dir nicht vergeben werden könnte.«
»Mein gescheites, aufmüpfiges, kleines Mädchen«, flüsterte Tilla und die in ihren Worten mitschwingende Zuneigung ließ Demy laut aufschluchzen. »Dann lass mich jetzt ein paar Minuten allein, damit ich versuchen kann, mit Gott ins Reine zu kommen.«
»Ist gut.« Demy drückte einen Kuss auf Tillas eiskalten Handrücken. Sie erhob sich und trat zur Tür zu ihrem Zimmer, die in der mittlerweile hereingebrochenen Dunkelheit nur noch zu erahnen war. Dort drehte sie sich noch mal um und sagte: »Ich liebe dich, Tilla.«
Demy schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit der Gewissheit an das Holz, dass dies ihr Abschied gewesen war. Sie würde Tilla nicht mehr lebend wiedersehen.
Kapitel 43
Zarskoje Selo, Russland,
August 1915
In den Fluren und Räumen des Alexanderpalastes ging es längst nicht mehr so ruhig und beschaulich zu wie noch vor einem Jahr.
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