Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
bin müde, Kleine, also unterbrich mich bitte nicht.«
Angst setzte sich in Demy fest und trocknete ihre Kehle aus. Sie fühlte, wie die Beklemmung in ihr wuchs und ihr Herz zu erdrücken versuchte. Eilig rutschte sie vom Stuhl zu Boden und legte ihren Kopf auf das Bett neben ihre und Tillas ineinander verschlungenen Hände.
»Nachdem deine Mutter gestorben war, dauerte es nicht lange, bis Vater begann, sich für mich … als Frau zu interessieren.«
Demys Kopf ruckte in die Höhe und sie starrte Tilla ungläubig und entsetzt zugleich an. »Das … das kann nicht sein! Außerdem warst du damals noch ein Kind!«, wehrte sie den Gedanken ab, der ihr Gehirn zu peinigen drohte.
»Bitte, Demy.«
Demy behielt das Gesicht ihrer Schwester aufmerksam im Blick. Noch immer spürte sie, wie die Kraft aus Tillas Körper wich, als trage ein Fluss das Blatt mit sich davon, das auf seine Wellen gefallen war. Wenn sie erfahren wollte, welche Begebenheiten Tilla zu dem Menschen geformt hatten, der sie heute war, musste sie ihr jetzt den Raum für ihre Offenbarung lassen.
»Ja, ich war damals noch ein Kind. Aber er benutzte mich über Jahre hinweg. Immer dachte ich, dass ich mich eines Tages zur Wehr setzen würde. Irgendwann wollte ich ihn das nicht mehr mit mir tun lassen. Dann erlahmte plötzlich sein Interesse an mir, und er wandte seine Aufmerksamkeit Anki zu. Ist es nicht paradox, dass ich im ersten Augenblick Eifersucht verspürte? Ich sah, wie er sie beobachtete, wie er sie berührte, und da wusste ich: Anki musste fort! Ihr durfte nicht dasselbe geschehen wie mir. Das Auftauchen der russischen Fürstenfamilie an unserem Strand in Koudekerke kam mir damals wie eine Gebetserhörung vor. Es passte einfach alles: Sie suchten ein Kindermädchen für ihre reizenden Töchter. Die Fürstin besaß deutsche Wurzeln und fand den Gedanken großartig, dass ihre Töchter unter Ankis Anleitung ihr Deutsch verbessern könnten. Ich war so glücklich, als sie Anki mitnahmen!« Tilla seufzte und schwieg. Die Worte kamen ihr zunehmend schwerer über die farblosen Lippen.
Demy überlegte, ob sie Tilla bitten sollte, sich zu schonen, aber sie spürte, dass ihre Schwester erzählen musste, was damals geschehen war. Sie brauchte diese Rückbesinnung – vielleicht, um in Frieden sterben zu können?
»Vater verlor gänzlich das Interesse an mir. Ich atmete auf und dachte, er würde sich vielleicht wieder eine Ehefrau suchen … bis ich eines Tages in deine Kammer trat und sah, wie er dich streichelte, als du schliefst.«
Tilla zögerte, gefangen in ihren Erinnerungen und Emotionen, während Demy begriff, wie groß die Liebe ihrer Schwester zu ihr war. Tränen füllten ihre Augen, ahnte sie doch jetzt, dass Tilla gezielt die Ehe mit Joseph eingegangen war, um vor ihrem Vater zu fliehen – und Demy vor ihm zu beschützen!
»Es bedurfte vieler Schummeleien, bis wir endlich nach Berlin ziehen durften. Fort von Vater und seinen Gelüsten nach kleinen Mädchen. Aber in meiner Seele, in meinem Kopf war etwas zerstört. Ich konnte Joseph nicht … nicht das geben, was er von einer Frau erwartete.« Tilla atmete mühsam, als fiele es ihr schwer, ihre Lungen mit Luft zu füllen. »Natürlich haben wir die Ehe vollzogen, aber es war nie so, wie es sein sollte. Ich hoffte auf Geduld und Verständnis von Joseph, doch beides brachte er nicht zuwege. Und so sind wir nun, was wir sind.«
»Ach, Tilla, es tut mir so leid. Ich hatte bis heute nicht verstanden, weshalb du mich damals aus meinem Zuhause gerissen hast.«
»Du warst zu jung, als dass ich dir die Gründe offenlegen durfte«, hauchte Tilla und drückte ihr die Hand, leicht wie ein Schmetterling.
»Und damit hattest du vollkommen recht. Ich hätte dir nicht geglaubt! Kein Wort!«
»Und später konnte ich nicht mehr darüber sprechen.«
»Aber warum nicht? Ich habe dich so oft mit Beschwerden überschüttet.«
»Sei still, Demy, und lass mich erzählen.«
Die jüngere Schwester nickte und legte ihren Kopf wieder auf die Matratze.
»Als ich kurz nach der Hochzeitsreise Koudekerke aufsuchte – du erinnerst dich sicher, denn du wolltest mich unbedingt begleiten –, war Rika elf Jahre alt. So alt wie ich damals …«
In Demys Innerem flammte Hitze auf. Eine Ahnung breitete sich in ihrem Herzen aus, drohte es zu verbrennen. Nun verstand sie, was Tilla gefühlt haben musste und weshalb sie ihre jüngeren Schwestern aus der Reichweite ihres Vaters hatte schaffen müssen. Unbändiger Zorn schien
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