Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
noch abzureißen in der Lage war, stand zwischen ihnen. Ihre einst regelmäßigen Treffen fanden in zunehmend größeren Abständen statt und wurden dabei immer kürzer und oberflächlicher.
Aber an wen konnte sie sich sonst wenden, um Robert zu finden und ihm zu helfen? Immerhin war er hier in Petrograd kein Unbekannter! Der junge Arzt hatte vielen Menschen geholfen.
»Dr. Botkin!«, entfuhr es Anki laut. Neue Hoffnung durchflutete sie, ließ sie sofort auf die Füße springen und ins Haus eilen. Die Tür fiel donnernd hinter ihr ins Schloss. Mit fliegendem Rock und erhitztem Gesicht stürmte sie zu den Zimmern für die Bediensteten und rief schon im Flur nach Alex.
Kapitel 42
Berlin, Deutsches Reich,
August 1915
Hat der Tod einen spezifischen Geruch? , fragte sich Demy, während sie sich vom Fenster abwandte und zu Tilla setzte. Ihre anfängliche Wut auf ihre Schwester, die ein unschuldiges Kind in ihrem Leib hatte töten lassen, war verraucht. Viele andere Möglichkeiten hätten zur Verfügung gestanden, aber Tilla hatte sie nicht gesehen, nicht sehen können.
Schuldbewusst rieb Demy sich ihre Nase und grübelte, warum sie nicht erkannt hatte, dass Tilla nicht nur Triumph über den Seitenhieb empfand, den sie ihrem untreuen Mann zugefügt hatte, sondern vor allem verzweifelt gewesen war. Weshalb konnte Demy mit Lina und Margarete mitfühlen, sah und verstand ihre Kümmernisse, ebenso wie die von Maria, Henny und den Gästen, versagte aber bei ihrer Schwester kläglich?
»Gräm dich nicht, Demy. Es war allein meine Entscheidung, dem Leben des Kindes ein Ende zu setzen.«
Demy rutschte vor an die Stuhlkante, da Tillas Stimme nur schwach bis zu ihr drang. »Ich trauere um ein verlorenes Leben.«
»Du solltest mir Vorwürfe machen, nicht dir.«
Erstaunt hob Demy die Augenbrauen. Offenbar kannte ihre Halbschwester sie besser, als sie angenommen hatte. »Du hast diese Frau kommen lassen, weil du darin den einzigen Ausweg sahst«, flüsterte Demy und verdrängte die Frage, wovor genau Tilla fliehen wollte.
Ihre Schwester bemühte sich um ein Lachen, brachte jedoch nur ein heiseres Krächzen zustande. »Du bist ein herzensgutes Mädchen, das niemals schlecht über mich denken will, nicht wahr? Meinst du, ich weiß nicht, dass dieses Kind bei unseren finanziellen Mitteln ein angenehmes Leben hätte führen können? Ich weiß auch von Lina und ihrem bis jetzt unerfüllten Wunsch nach einem Kind. Selbst die alte Degenhardt hätte sich des Kindes angenommen.«
Entsetzt darüber, dass Tilla ihre nicht zu Ende gebrachten Überlegungen erahnte, schüttelte Demy den Kopf, ließ ihre Schwester jedoch fortfahren.
»Ich darf Joseph unmöglich einen Grund liefern, mir die Scheidungspapiere vor die Füße zu werfen. Ich will mein Druckmittel gegen ihn in der Hand behalten, damit wir weiterhin hier wohnen dürfen. Und ich möchte mein Leben so genießen, wie es bisher war.«
Jedes einzelne von Tillas Worten traf Demy wie ein Peitschenhieb. War es reiner Egoismus, dass das ungeborene Kind hatte sterben müssen? Und wozu? Damit Tilla ihm in ein paar Stunden folgte?
Dr. Stilz hatte zwar die Blutung zum Stillstand gebracht, Demy aber auch unmissverständlich erklärt, wie schlecht Tillas Chancen standen, den schwerwiegenden Blutverlust zu überstehen. Nun war er unterwegs, um alle verfügbare Hilfe zu mobilisieren, doch Demy sah, wie das Leben mit jeder Minute aus Tillas Körper entwich.
»Du bist so ganz anders als ich«, sagte Tilla kaum verständlich und schloss wieder die Augen.
»Wir alle unterscheiden uns in unserem Wesen. Aber ein jeder von uns hat neben seinen Fehlern auch seine guten Seiten.«
»Denkst du das auch von mir?«, hakte Tilla mit geschlossenen Augen nach.
Demy zögerte wohl einen Moment zu lange, denn auf Tillas gelblich verfärbtes Gesicht schlich sich ein bitteres Lächeln. Eine einzelne Träne rollte aus dem Augenwinkel über ihre Wange. Die jüngere Schwester beugte sich vor und wischte sie mit ihrem Zeigefinger beiseite. »Du hast viele gute Seiten. Aber ich fürchte, du hast sie tief in dir versteckt, zu tief, als dass ich sie jemals richtig begreifen konnte.«
Schweigen legte sich über die Schwestern. Durch das geöffnete Fenster drang warme Luft, die nach Erde und blühenden Rosenbüschen duftete, und das gemütliche Gurren einer Taube.
»Ich erzählte dir jetzt etwas, Demy. Vermutlich denkst du hinterher noch schlechter von mir, als du es ohnehin schon tust.«
»Tilla, ich …«
»Ich
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