Sturmzeit
wußte im voraus, was Maksim antworten würde. Er würde von der Verantwortung aller Menschen für jedes Unrecht auf Erden sprechen - wer keine Partei ergreift, wer neutral bleibt, wer sich ins Schweigen flüchtet, macht sich zum Handlanger der Herrschenden und Unterdrücker - und jeder hat zu zahlen für jeden Tropfen Blut, den die arbeitende Klasse... oh, Gott wußte, wie satt sie das hatte! Auf einmal spürte sie ihrer Angst eine hemmungslose Wut entwachsen, und diese Wut richtete sich auf Maksim. Er und seinesgleichen waren schuld, daß sie jetzt in Lebensgefahr schwebte und nicht einmal weglaufen konnte sie, wegen der kranken Belle. Ihr ganzes Leben schien ihr eine Verkettung unglückseliger Ereignisse, und schuld an allem war Maksim.
Sie genoß seinen überraschten Blick, mit dem er des Zornes auf ihrem Gesicht gewahr wurde.
Brüsk wandte sie sich ab und ging davon, die Schultern gestrafft, als wisse sie von keiner Angst, dabei wuchs in ihr die Gewißheit, daß gerade die Angst sie von nun an nie mehr ganz verlassen würde. Sie war greifbar geworden. An allen Ecken ihres Lebens würde sie stehen und warten - eine boshafte, aufdringliche, alte Bekannte.
Mascha, die Aktivistin, Nina, das Hausmädchen, und Jurij, der Arbeiter, waren einander nie zuvor begegnet. Aber sie waren Genossen im Kampf. Nebeneinander stürmten sie die Treppe im Winterpalast hinauf - keine Viertelstunde, nachdem die Kanone des Kreuzers Aurora, der im Hafen vor Anker lag, den Startschuß zur Revolution gegeben hatte. Es war Abend, der späte Abend des siebten November, und die Luft war kalt und roch nach Schnee. Der Frost hatte bereits eingesetzt, der gefürchtete russische Winter stand vor der Tür. Aber Petrograd erwachte in dieser Nacht, lebte, tobte, kämpfte. Um den Winterpalast herum brannten Fackeln, beleuchtete der Feuerschein Hunderte von Gesichtern, in denen Entzücken und Fassungslosigkeit standen. Arbeiter, Matrosen und Soldaten erkämpften sich Seite an Seite den Weg durch Türen und Pforten, über Treppen und Gänge, durch Zimmer und Säle. Die Verteidigung des Palastes wurde in der Hauptsache von regierungstreuen Junkern bestritten, von denen die meisten kaum älter waren als sechzehn. Sie leisteten nur zögernd Widerstand. Vereinzelt fielen Schüsse, aber die vermochten kaum Geschrei und Jubel der Masse zu übertönen. Überall wehten rote Fahnen, draußen auf dem Platz bildeten sich gewaltige Chöre, die die Internationale sangen. Der Kampf schien mitreißend, gefährlich, unbändig, von nichts und niemandem mehr aufzuhalten.
Mit jeder Treppenstufe, die sie erklomm, wurde Nina von wachsender Hysterie ergriffen. Sie meinte, ihr müßten die Sinne schwinden. Sie hatte keine Waffe in der Hand - dafür hatte ihr Freund Jurij wohlweislich gesorgt -, aber sie schrie, als müßte sie sterben. Die Menschenmassen, die Nacht, der Fackelschein, die Lieder und Stimmen berauschten sie.
Jurij, mit aufgepflanztem Bajonett, behielt sie vorsorglich im Auge. Nie war sie so blaß und zugleich von solchem Fieber erfüllt gewesen. Er fürchtete, sie werde sich im Rausch von der nächsten Balustrade stürzen oder in die Messer der eigenen Reihen laufen.
In ihm selber glühte das Feuer vom Februar noch, aber es brannte nicht mehr. Er war immer ein phantasieloser, nüchterner und recht gescheiter Bursche gewesen, und seit einiger Zeit meldete sich sein kühler Verstand wieder mit Nachdruck. Er wußte: Es ging in dieser Revolution vor allem um den Boden; die Umverteilung des Landes, die Umgestaltung der wirtschaftlichen Ordnung waren das Ziel. Das konnte nicht problemlos vor sich gehen, soviel mußte jedem klar sein. Nicht nur, daß es Kämpfe geben würde. Nein, was schlimmer war, die Versorgung würde vermutlich zunächst vollständig zusammenbrechen. In Staub und Asche versinken wie das ganze System. Sie würde sich erholen... doch die Zeit dazwischen?
Auch ein guter Bolschewist, fand Jurij, mußte zuerst an sich denken - Genossen hin, Genossen her. Er hatte vorgesorgt. Mit Ninas Hilfe hatte er das verlassene Haus der Familie Bergstrom ausgeräumt; Bilder, Möbel, Teppiche und Schmuck soviel seine Wohnung nur fassen konnte. Er erinnerte sich an die entsetzte Miene seiner Mutter, der ehrlichen Arbeiterin. »Junge, Jurij, das nimmt kein gutes Ende. Glaub es mir!«
Er lachte. »Nein, Mutter, die Zeiten ändern sich. Das ist Volkseigentum, verstehst du? Wir schaffen das Privateigentum ab!«
Seine Mutter war eine unbestechliche Frau. »Wenn
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