Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
Vom Netzwerk:
das Volkseigentum ist, dann gehört es aber auch nicht in unsere Wohnung. Schon gar nicht bei Nacht und Nebel!«
    Sie verstand nicht. Es hatte auch keinen Sinn, es ihr zu erklären. Er würde versuchen, diese Dinge ins Ausland zu verkaufen. Was immer die Zukunft brachte, überleben würde, wer genug Geld besaß, die anderen zu korrumpieren. Und er, Jurij, hatte vor zu überleben.
    Neben ihm lief Mascha, ein Gewehr im Arm. Ihr Gesicht verriet keine Bewegung. Sie blieb sachlich, kühl und überlegt. Der vergangene Tag glitt durch ihr Gedächtnis: Seit zwei Uhr früh hielten Soldatentrupps der Bolschewisten die wichtigsten Organe der Stadt besetzt - Bahnhöfe, Elektrizitätswerk, Telegrafenamt, Druckereien, Post, die Telefonzentrale und die Staatsbank. Damit war die provisorische Regierung in ihren Handlungen lahmgelegt. Ein weiteres Kommando hatte Plakate verteilt, die den Sturz der Regierung verkündeten, etwas verfrüht zu diesem Zeitpunkt, aber zweifellos eine wirksame Propaganda. Petrograd war in den Händen der Bolschewisten, bis auf diese eine letzte Festung: den Winterpalast. Ein Soldat, der sich den Eindringlingen entgegenstellte, brach von einer Kugel tödlich getroffen zu Maschas Füßen nieder. Sie machte einen großen Schritt über ihn hinweg. Sie sah ihn kaum. Sie fühlte sich müde, erschöpft, fast leer. Um sie herum nichts als Siegeslust, aber sie... sie konnte nur denken, was nun noch alles kommen würde, welche Schwierigkeiten sie haben würden, wie viele ungelöste Probleme sich vor ihnen türmten. Morgen würde Wladimir Iljitsch Lenin die Ziele seiner, ihrer aller Idee verkünden: den Bauern Land, den Soldaten Frieden, den Arbeitern die Macht.
    Dann mußten sie weiterkämpfen, zäh und verbissen, bis dieses gewaltige, riesengroße, unüberblickbare Land die neue Zeit begriffen haben würde. Trotzki hatte schon davon gesprochen: die Eisenbahn nutzen, ein rollendes Büro errichten, das die Revolution weit hinter den Ural, tief in die asiatischenSteppen tragen würde. Soviel blieb zu tun... sie war müde. Sie wünschte, dieses junge Mädchen neben ihr würde aufhören zu schreien. Es war zehn Minuten nach zwei Uhr in der Nacht, am achten November, als sich die Provisorische Regierung im weißen Speisezimmer des Winterpalastes ergab und verhaftet wurde.
    Es war am Morgen des achten November, als Lenin die Rednertribüne im großen Saal des Smolnje betrat und dem Zweiten Kongreß der Sowjets den Sieg der Bolschewisten verkündete. Er bot den Deutschen Frieden an allen Fronten, sprach von der Propagandafreiheit, der Abschaffung der Todesstrafe in der Armee und erließ den Befehl, den flüchtigen Kerenski zu verhaften.
    Und dann verlas er das Dekret über die Landverteilung: »Der Großgrundbesitz wird ohne irgendeine Entschädigung unverzüglich aufgehoben.«

    Mitten in der Nacht erwachte Felicia davon, daß jemand neben ihrem Bett stand und sie an den Schultern rüttelte. Es war Kat im knöchellangen weißen Nachthemd, mit aufgelösten Haaren.
    »Felicia! Wach auf! Du mußt aufwachen! Es sind Leute hier, die sagen, das Haus der Baronin Randow brennt! Wach doch auf!«
    Felicia, aus wirren, angstvollen Träumen erwachend, setzte sich auf und blinzelte ihre Schwägerin verschlafen an. Kat hielt eine brennende Kerze in der Hand, deren Schein gespenstische Schatten im Zimmer tanzen ließ.
    »Ich hab' mich nicht getraut, Licht zu machen«, wisperte sie.
    »Ach, Felicia, ich habe solche Angst um Andreas! Steh doch bitte auf! Wir müssen irgend etwas tun.«
    Felicia kam endlich zu sich. »Wer ist hier?«
    »Dienstboten der Baronin. Sie wollten uns warnen. Felicia!«
    »Ich komme ja schon.« Felicia schwang die Beine aus dem Bett. Ihre Hände zitterten. Nun wurde der Alptraum Wirklichkeit. Sie hatte immer gewußt, daß es irgendwann passieren würde. Verlier jetzt nicht die Nerven, befahl sie sich. Eine Decke um die Schultern gehängt, folgte sie Kat den Gang entlang und die Treppe hinunter. In der Halle standen drei Elendsgestalten und blickten sie hilfesuchend an. Die beiden Männer und die Frau waren den ganzen Weg vom Nachbargut bis hierher gerannt, am Strand entlang. In ihren Augen flackerte die Angst. Sie redeten wild durcheinander, in estnisch und in gebrochenem Deutsch, und was Felicia schließlich verstand, war dieses: Auf dem Nachbargut herrschte schon seit einigen Tagen ein Zustand der Anarchie, ähnlich wie hier, bloß gab es dort ein paar äußerst aggressive Rädelsführer, die die anderen jeden

Weitere Kostenlose Bücher