Sturmzeit
sie stürzen in die Tiefe.«
Trotz der Anstrengungen der vergangenen Wochen schwangen Triumph und Erregung in Maschas Stimme. Die bestgerüstete Kaserne Rußlands... der Smolnje, ehemals ein Institut zur Erziehung adeliger Mädchen - ausgerechnet! - und heute Hauptquartier der bolschewistischen Partei. Kerenski und seine provisorische Regierung hatten sich inzwischen im Winterpalast eingerichtet. Und es war dem rechtsorientierten General Kornilow zu verdanken, daß die verfolgten Bolschewisten hatten zurückkehren können, daß die Rote Garde wiederbewaffnet wurde. Kornilow, der mit einem Trupp Getreuer im August auf Petrograd marschiert war, um die provisorische Regierung zu entmachten, einte für den Augenblick der Gefahr Kerenski und Bolschewisten.
Der Putsch war vereitelt, kaum daß er begonnen hatte. Aber die Bolschewisten hatten wieder Waffen in den Händen. Und eine erstklassige Propaganda. »Kerenski kooperiert mit den Deutschen!« war ihr erfolgreichster Slogan, Genosse Trotzki ihr derzeit wichtigster Mann. Sein Revolutionskomitee arbeitete mit derselben Präzision und Zielsicherheit, mit der - Mascha mußte lächeln, als ihr dieser Gedanke kam -, ja, mit der einst das Messer der Guillotine die Feinde des Volkes ihrer Köpfe beraubt hatte.
»Hast du was von Maksim gehört?« fragte Ilja. Er stellte diese Frage jeden Tag. Er konnte sich kaum verzeihen, was damals geschehen war, schon deshalb nicht, weil er an jenem verhängnisvollen Tag wider alle Vorsicht gehandelt hatte. Mascha hatte das Haus durch die Hintertür verlassen. Er war vorn hinausgegangen wie der blutigste Anfänger.
»Nichts«, erwiderte Mascha, »absolut nichts. Er ist wie vom Erdboden verschwunden. Aber wenn mich nicht alle belügen, dann ist er auch nicht verhaftet worden. Ich habe Nachforschungen angestellt. Es ist, als hätte es ihn nie gegeben.«
»Und du glaubst nicht, daß...«
»Daß er tot ist? Als ich ihn verlassen habe, war er in einem Zustand, der das wahrscheinlich sein läßt. Nur - wer hat ihn dann weggebracht? Irgend jemand muß ihn, tot oder lebendig, gefunden haben, denn allein konnte er nicht weg. Es ist wie verhext, Ilja. Wenn er noch lebt«, Mascha starrte zum Fenster hinaus, als suche sie in dem neblig trüben Licht des Novembertages eine Antwort, »wenn er noch lebt, warum ist er dann nicht hier? Das will mir nicht in den Kopf. Jetzt, wo es endlich passiert... was, zum Teufel, hält ihn da von Petrograd fern? Es ist mir vollkommen schleierhaft!«
»Mir auch«, stimmte Ilja zu. Beide sahen sie einander hilflos an. Die Tür ging auf, und ein junger Mann trat ein. Er trug die rote Armbinde der Revolutionäre.
»Vor dem Winterpalast errichten sie Barrikaden«, sagte er,»und sie ziehen ein ganz schönes Aufgebot an Soldaten zusammen. Wir sollten bald...«
»Wir werden bald!« unterbrach Mascha. Sie schüttelte heftig den Kopf, als wolle sie all die störenden Gedanken, all die Grübeleien hinausschütteln. Nicht an Maksim denken, nicht jetzt! Die Ereignisse jagten sich, drängten der Eskalation entgegen, dem Höhepunkt, dem Sieg. Nicht schlappmachen, Mascha, du hast keinen anderen Geliebten als den Kampf. Ihm gehörst du, niemandem sonst.
Ihre dunklen Augen funkelten, ihre Haare flogen. »Es ist verdammt höchste Zeit zu handeln, Genossen«, sagte sie.
Es war an einem Sonntagmorgen, als auf dem alten Gut der Familie Bergstrom der erste Stein flog. Maksim, Kat und Felicia saßen im Eßzimmer um den Frühstückstisch, vor einem Brot, das grau und feucht war, und vor einer braunen Brühe, die nicht einmal mehr farblich eine Verwechslung mit Kaffee erlaubte. Nebelschwaden umwogten das Haus, drängten sich feindselig gegen die Fenster. Das Hausmädchen hatte an diesem Morgen kein Feuer im Kamin gemacht, und alle hatten das Gefühl, als kröchen Feuchtigkeit und Kälte von draußen bereits ins Zimmer hinein. Kein Dienstbote ließ sich blicken. Felicia hatte nur einen Knecht am Morgen gesehen, der mit wirren Haaren und halboffenem Hemd aus dem Zimmer eines der Hausmädchen gekommen war. Er war keineswegs verlegen gewesen, sondern hatte nur frech gegrinst. Sie hatte nicht gewagt, ihm etwas zu sagen, aber insgeheim dankte sie Gott für ihre Vorsicht, die sie die letzten Wodkaflaschen aus der Speisekammer hatte entfernen und in ihrem Zimmer verstecken lassen. Nicht auszudenken, wenn die Leute auch noch Alkohol in die Finger bekämen.
Nicola, die zusammengekauert auf ihrem Stuhl saß, jammerte leise. »Mir ist so kalt«,
Weitere Kostenlose Bücher