Sturmzeit
klagte sie. Felicia, die ihre klammen Hände um die Kaffeetasse legte, weil sie sich so ein bißchen Wärme erhoffte, sprang plötzlich auf und warf ihre Serviette auf den Tisch. »Mir reicht es jetzt!« rief sie. »Wir sitzen hier alle wie halberfroren, und dabei haben wir, wenn überhaupt noch was, dann Feuerholz. Ich werde diese Schlampen von Dienstmädchen jetzt dazu bringen, daß sie hier ein Feuer machen, und wenn ich sie an den Haaren ins Zimmer schleifen muß!«
Maksim öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und gerade in diesem Augenblick zerbrach klirrend die Fensterscheibe. Glassplitter flogen durch die Luft, Feuchtigkeit flutete ins Zimmer. Auf dem Teppich lag ein großer Feldstein. Kat sprang mit einem Schrei auf und drückte Nicola an sich. Maksim war sofort am Fenster. Er blickte hinaus, aber der Nebel machte die Feinde unsichtbar. Er verschluckte selbst den Laut der Schritte. Schweigend und unsichtbar lag die Welt auf der Lauer.
Felicia betrachtete fassungslos den Stein, der direkt zu ihren Füßen aufgeschlagen war. »Wer war das? Wer tut so etwas?«
»Die Rache der Unterdrückten«, erklärte Maksim, grimmig, aber keineswegs hämisch, »Krieg den Palästen, verstehst du?
Dies hier«, er betrachtete die schweren Eichenholzmöbel und das schimmernde Zinngeschirr auf den Regalen, »dies hier war allzu lange ein Palast.«
»Ja, aber was wollen die denn von uns? Wollen sie uns umbringen?«
»Es war vielleicht nur ein Schreckschuß«, meinte Maksim. Mit dem Fuß bewegte er den Stein. »Wir sollten uns ein gemütlicheres Zimmer suchen, und, Felicia - kein Streit mit den Dienstboten! Wir sind nur zu dritt, dazu eine kranke Frau und ein kleines Mädchen. Die anderen sind in der Überzahl.«
Sie sah ihn erschrocken an.
Später fing er sie allein vor Tante Belles Zimmertür ab. »Ich muß mit dir sprechen, Felicia. Es ist niemand hier oben außer uns, ich habe mich umgesehen.«
Seine Worte, seine gedämpfte Stimme machten ihr Angst.
»Wegen heute früh?«
»Ja. Weißt du, ich glaube, es wäre nicht falsch, wenn wir fortgingen.«
»Wohin?«
»Ja. Wohin. Mit einem Fischerboot rüber nach Finnland, denke ich. Dann weiter. Ihr müßt nach Deutschland zurück.«
»Aber wir...«
Er unterbrach sie mit einer Kopfbewegung zu jener Tür hin, hinter der Belle lag. »Ich weiß. Das ist das Problem. Wie geht es ihr heute?«
»Schlecht. Sie hat sehr hohes Fieber. Man kann sie nicht transportieren.«
Er nickte langsam. »Ja, ja«, meinte er vage.
Felicia sah ihn an, als erwarte sie von ihm die Lösung aller Probleme. »Du bist doch einer von ihnen. Dir dürften sie nichts tun.«
Maksim lächelte bitter. »Sicher. Bloß wird es schwierig sein, ihnen das zu beweisen. Für die bin ich jetzt einer von euch.«
»Ich... mache dir ziemlich viel Ärger, nicht?«
»Ach, das hast du immer getan«, erwiderte Maksim, aber sein Spott war liebevoll, und seine Augen ruhten sanft auf ihr, »ich habe mich schon beinahe daran gewöhnt.« Er streckte die Hand aus und strich ihr kurz über den Arm. Die Berührung dauerte nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde, und doch war sie von einer neuen Zärtlichkeit erfüllt, die über Freundschaft und Vertrautheit hinausging. Felicia zuckte zurück. Sie würde keinen Schritt mehr auf ihn zutun, das hatte sie sich geschworen. Was immer sich in Zukunft zwischen ihnen ereignen würde - es mußte von ihm ausgehen.
Zudem überwog in diesem Augenblick die Angst. Vor allem anderen empfand Felicia die gespenstische Furcht, in einer Falle zu sitzen. Nichts von allem, was sie früher geschützt hatte, blieb ihr jetzt noch: Ihr Vater war tot, Alex weit fort, Belle krank. Und schon morgen konnte es sein, daß Gesetze nicht mehr existierten. Daß eine Horde feindseliger, entfesselter Bauern... Maksim, als ahnte er, was sie dachte, sagte: »Die Leute, die heute früh den Stein ins Fenster geworfen haben, sind Nachkommen von Männern und Frauen, die noch als Leibeigene ihren Herren dienten. Verstehst du?«
»Ja«, flüsterte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ja, sie verstand. Auf einmal schien ihr das alte Haus erfüllt von Grauen, von wispernden Stimmen, die von jahrhundertelanger Unterdrückung berichteten, von Tränen und Blut, von Haß und Leidenschaft, die nach Rache schrien, unnachsichtig Vergeltung forderten.
Ach, aber was hab' ich mit all dem zu tun, dachte sie, ebenso verzweifelt wie empört. Doch sie sprach es nicht aus, wie sie das noch vor einem Jahr getan hätte. Sie
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