Sturmzeit
sich hörte. Es war Maksim.
Sein dunkles Haar war weiß vom Schnee, von seinen Wimpern lösten sich tauende Tropfen. Der Schal um seinen Hals starrte von Eis. Er streifte seine Handschuhe ab und hauchte in die Hände.
»Die Pferde sind gut untergebracht«, sagte er, »die haben sogar Hafer. Wir hingegen...«
»Ich werde jetzt gleich hinuntergehen und nachschauen, ob ich irgend etwas zu essen finde«, sagte Felicia, »und wenn es nur ein Stück trocknes Brot ist.«
Mit einer an ihm fremden Scheu sah Maksim zu dem Bett hinüber, auf dem sich Belle unruhig wälzte. »Wie geht es ihr?«
»Sie stirbt. Und ich weiß nicht, ob wir sie aus diesem Bett noch einmal herausbringen. Ich will sie einfach nicht mehr quälen.«
»Wir können einige Zeit hierbleiben, wenn wir etwas zu essen finden und niemand kommt, der uns fortjagt.«
Sie schwiegen beide. Kat betrat das Zimmer, eine Wärmflasche an sich gepreßt. »Hier«, sagte sie ausdruckslos,»und in der Küche sind noch Brot, Eier und ein paar andere Sachen. Falls ihr Hunger habt.«
»Falls wir Hunger haben? Kat, wir sterben gleich! Also, ich mache jetzt etwas zu essen, und ihr paßt auf Tante Belle auf. Kat«, sie faßte kurz die Hand der Schwägerin, »bist du in Ordnung?«
Kats starre Miene veränderte sich nicht. »Ja, danke.«
Felicia nickte. Daheim, entschied sie, daheim kümmere ich mich um Kat. Jetzt brauchen wir etwas zu essen. Das ist das wichtigste.
Sie schüttelte die Gedanken ab und ging hinunter in die Küche.
Der Schneesturm tobte den ganzen Tag und die folgende Nacht. Er rüttelte an den Fenstern, daß die Scheiben klirrten. Felicia fand keinen Moment lang Schlaf. Sie lauschte auf die vielen Geräusche im Haus, das Ächzen der Fußböden, das Knacken der Treppenstufen, das unheimliche Heulen in den kalten Kaminen. Sie hatte Maksim gebeten, den Riegel vor die Haustür zu schieben, aber sie zweifelte sehr daran, daß diese Maßnahme einen Schutz bieten würde. Sie ließ zwei Kerzen neben ihrem Bett brennen, damit sie, was immer kommen würde, der Gefahr wenigstens entgegen blicken könnte. Vor ihrem inneren Auge stand beständig das Bild einer Truppe bewaffneter Rotgardisten, die die Treppe hinauf und in ihr Zimmer stürmten.
Im übrigen stand sie nahezu jede Stunde auf und sah nach Tante Belle. Im Fieberwahn schleuderte die immer wieder Kissen und Decken von sich, um dann vor Kälte mit den Zähnen aufeinanderzuschlagen. Zweimal fiel sie aus dem Bett. Ein paarmal fragte sie nach Julius, und Felicia gab ausweichende Antworten. In einem Moment der Klarheit öffnete Belle ihre Augen weit und sagte: »Er ist in Sibirien, nicht?«
»Im Osten, Belle. Niemand hat etwas von Sibirien gesagt.«
Aber sie selbst hielt Sibirien für wahrscheinlich. Armer, lieber Onkel Julius! Er war ein freundlicher, stiller Begleiter ihres Lebens gewesen. Auf Lulinn hatte sie ihm über den Tisch hinweg zugezwinkert, wenn Großvater die unvermeidliche Bemerkung über den Treueeid seines Schwiegersohnes an den russischen Zaren machte. Aber das war ja nun auch schon sehr lange her.
Endlich kam der Morgen. Ein blasses, graues Licht erhellte den östlichen Horizont, breitete sich langsam über das Land, tauchte den frühen Tag in eine trübe Dämmerung. Die Wipfel der Kiefern rauschten. Es hatte aufgehört zu schneien, aber die Wolken hingen noch tief, durch die Fenster drang ein eisiger Wind. Felicia tappte in die Küche hinunter, um nachzusehen, ob sich noch etwas fand, woraus sich ein Frühstück machen ließe. Zu ihrem Erstaunen erwarteten sie ein knisterndes Feuer im Ofen, ein pfeifender Wasserkessel auf dem Herd und der Duft von gebratenem Speck. Maksim drehte sich zu ihr um. »Du hast bestimmt kein Auge zugetan heute nacht«, sagte er, »setz dich hin und iß etwas!«
Dankbar sank sie auf einen Stuhl. Sie bemühte sich, die Bilder der Nacht zu verscheuchen.
»Ach, Maksim«, murmelte sie, »wenn du nicht da wärest...«
»Ich bin ja da«, sagte er sanft. Sie hob den Kopf, sah ihn an und fand die Wärme in seiner Stimme in seinen Augen wieder. Was, so fragte sie sich verwirrt, sah er plötzlich in ihr, daß es eine solche Sanftheit in ihm wachrief? Voller Mißtrauen kam ihr der Gedanke, es könnte Mitleid sein, was er empfand, und mit einer brüsken Bewegung erhob sie sich. Solange sie lebte, hatte sie Mitleid weniger ertragen als irgend etwas sonst. Am wenigsten von ihm.
»Ich sehe noch mal nach Belle«, sagte sie kurz und verließ die Küche.
An Aufbruch war nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher