Sturmzeit
denken an diesem Tag, obwohl es sie alle in den Füßen zuckte weiterzukommen, nur weiter!
Nachdem aber jeder einmal einen Blick auf Belle geworfen hatte, beschlossen sie einstimmig zu bleiben. Es schien unmöglich, Belle auch nur die Treppe hinunterzubringen.
»Wir müssen ihr irgendwie helfen«, sagte Kat voller Grauen, aber sie wußte selber nicht wie. Zu ihrem Schrecken sah sich Felicia auf einmal ganz allein mit der Tatsache konfrontiert, Belle helfen zu müssen, und fühlte das alte hysterische Entsetzen in sich aufsteigen, das sie von ihrer Zeit als Schwester kannte.
Kat stand bloß wie ein verschrecktes Kind im Zimmer und sah aus, als warte sie auf die nächste Anweisung von Schwester Paula. Doch es gab keine Anweisung, keine Schwester Paula. Es gab nichts als ringsum Einsamkeit.
Felicia hielt aus. Sie saß an Belles Bett, eine Decke um die mageren Schultern gehängt, und reichte der Kranken immer wieder ihre Hand, damit sie sich daran festklammern konnte, tupfte ihr mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sie spürte ihren Rücken kaum mehr und hatte das Gefühl, ihr Kopf müsse in tausend Stücke zerspringen. Sie sehnte sich nach einem Augenblick der Ruhe, danach, Belles Stöhnen wenigstens für einen Moment zu entfliehen. Sie ging ins Nebenzimmer, wo Kat im Schein einer Kerze die Fotografie von Andreas betrachtete, die er ihr vor gerade einer Woche geschenkt hatte. Felicia mußte beim Anblick einer so nutzlosen Tätigkeit eine barsche Bemerkung mit Mühe unterdrücken. »Kat, setz dich einen Moment zu Tante Belle«, bat sie, »ich muß mir etwas zu essen holen.«
Kat begab sich willig ins Krankenzimmer. Felicia schlurfte die Treppe hinunter. Sie kam an einem halbblinden Spiegel vorbei und sah sich an. Sie runzelte die Stirn. Sie konnte die Spur jenes Liebreizes in ihrem Gesicht nicht mehr entdecken, den sie von früher kannte, wenn sie in Berlin oder auf Lulinn morgens in den Spiegel gesehen und sich in ihr eigenes Bild verliebt hatte. Keine Süße mehr, nirgends über diesem schmalen Mund. Und wozu auch! Was half ein betörendes Lächeln schon in Wahrheit!
Man hätte mir beibringen müssen, russisch zu sprechen und Menschen sterben sehen zu können, dachte sie zynisch. Die Hintertür ging auf und Maksim kam herein. Seine Wangen waren von der Kälte gerötet. »Ich war am Meer«, erklärte er auf Felicias fragenden Blick, »und ich habe jemanden gefunden, der euch nach Finnland hinüber bringen würde. Er will eine Menge Geld, aber ihr wäret in Sicherheit.«
»Belle schafft es nicht mehr.«
Sie sahen einander an.
Sie ist schön, dachte Maksim, und sehr stark.
Sie schraken zusammen, als sie laute Schritte auf der Treppe vernahmen. Kat stürzte in die Küche. »Felicia, du mußt kommen. Es geht Belle sehr schlecht. Ich weiß nicht, was ich tun soll! Komm, bitte!«
Wie ein Kind sieht sie mich an, dachte Felicia gereizt. Mit der Hand rieb sie ihren schmerzenden Nacken. Sie war so müde, so leer, so ausgebrannt. Ihre Augen tränten. Sie hätte davonlaufen mögen, dort hinaus in Schnee und Dunkelheit, so weit sie nur konnte, und nichts mehr von all dem hören und sehen. Sie hatte es satt, ihren Kopf für andere hinhalten zu müssen. Sie wollte für sich sorgen, für sich allein, und für niemanden sonst. Aber unvermutet tauchte eine Erinnerung aus ihrem Gedächtnis auf, Laetitia auf Lulinn an dem Tag, als die Russen kamen. »Wir sind höchst eigensüchtige Naturen, aber wir haben Verantwortung und Mut. Wenn wir jemanden lieben, dann stellen wir uns vor ihn und verteidigen ihn...«
Und dann hatte sie noch gesagt, daß sie nichts aus Edelmut taten, sondern nur, um ihre Herrschsucht zu befriedigen... aber gleichgültig, sie war Laetitias Enkelin, und Laetitia sollte sich ihrer nicht schämen müssen.
Sie strich sich die Haare zurück. Nur nicht zeigen, wie elend sie sich fühlte.
»Es ist schon gut, Kat. Ich gehe hinauf.«
9
Sie mußte viele Stunden geschlafen haben. Als Felicia erwachte, waren eine Nacht vergangen und ein Tag, und schon senkte sich draußen wieder Dunkelheit herab. Eine seltsame Zeitlosigkeit lag über diesem Haus: Es schien stets inmitten von Dunkelheit, Sturm und Schnee zu stehen, und in Felicias Empfinden entstand die Vorstellung, sie habe ihr ganzes Leben hier verbracht und werde für alle Zeiten bleiben. Was vorher gewesen war und nachher kommen würde, schien seine Realität verloren zu haben. Die Welt und die Zeit hatten sich auf diesen Ort, auf diese Stunde
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