Sturmzeit
reduziert.
Tante Belle war gestorben in der letzten Nacht. Felicia wußte nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, sie erinnerte sich nur, daß die Minuten geschlichen waren, sich zur Unendlichkeit gedehnt hatten. Das Zimmer war erfüllt gewesen von stickiger Luft, vom Stöhnen der Kranken, von Fieber und Tod. Felicia hatte genug Menschen sterben sehen, damals im Lager, um zu wissen, daß ein Ende lange dauern konnte. Sie hielt Belles Hand, flößte ihr Wasser ein, fächelte ihr mit einem Taschentuch Luft zu. Dabei betete sie im stillen unablässig: Lieber Gott, laß sie sterben! Laß sie schnell sterben. Laß es nicht so lange dauern!
Als Belle dann einschlief, waren ihre Lippen aufgesprungen und von seltsamer rostbrauner Farbe, ihr Gesicht gelblich, die Wangen tief eingesunken.
Felicia erhob sich. Sie blieb eine Sekunde stehen, darauf gefaßt, in Tränen auszubrechen. Aber sie mußte nicht weinen, sie konnte es nicht einmal. Fast nüchtern und sachlich dachte sie nur: Wir müssen aufpassen, daß Nicola ihre Mutter so nicht sieht.
Mit schwankenden Schritten verließ sie das Zimmer.Das Haus lag schwarz und still. Erst als sie den Gang entlangging, vernahm sie von unten das dumpfe Schlagen der Standuhr. Einmal. Ein Uhr in der Nacht. Sie betrat den Raum am Ende des Flurs, die Kerze, die sie mitgenommen hatte, verbreitete ein mattes Licht. Mit ungelenken Bewegungen stieg sie aus ihren Kleidern, kroch ins Bett wie ein Tier, das sich in eine Höhle flüchtet, um seine Wunden zu lecken. Da sie seit sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen hatte, gelang es ihr tatsächlich: Sie schlief ein.
Und nun also war sie erwacht, und nach einigen Minuten der Verwirrung stellte sie fest, daß sie draußen nicht den Morgen heraufdämmern, sondern die Nacht hereinbrechen sah. Die Erinnerungen flammten jäh auf, aber sie schob sie sofort von sich. Es war, wie sie zu Kat gesagt hatte - sieh nicht hin, bleib nicht stehen. Sie würde nirgendwo je mehr stehenbleiben. Sie stand auf und öffnete einen der Kleiderschränke an der Wand. Dies schien das Schlafzimmer einer feinen Dame gewesen zu sein, denn sie fand einen Morgenmantel aus blaßvioletter Seide, der an Ausschnitt, Ärmeln und Saum mit weißem Hermelin besetzt war. Sie schlüpfte hinein und genoß das Gefühl der kühlen Seide auf ihrer Haut. Dann kämmte sie sich die Haare und ging die Treppe hinunter.
Es herrschte ringsum tiefe Stille. Felicia fragte sich, ob wohl irgend jemand wach war. Mit langsamen, schläfrigen Bewegungen strich sie durch die unteren Räume, und die Schleppe ihres Morgenmantels raschelte leise hinter ihr her. Schließlich setzte sie sich in einem der Zimmer vor den Kamin, wohl aus Gewohnheit, denn da kein Feuer brannte, war es hier nicht wärmer als in jedem anderen Winkel des Hauses. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen, spürte ihr schweres, weiches Haar im Nacken und vergewisserte sich damit, daß sie lebte. Nach den Schrecken der vergangenen Nacht verspürte sie auf einmal das beinahe süchtige Verlangen, sich der Wärme und des Lebens ihres Körpers gewahr zu werden. Der Morgenmantel glitt auseinander. Mit einem Seufzer streckte Felicia ihre Beine aus, strich mit den Händen über die glatte Haut ihrer Schenkel. Ihr Herz schlug ruhig und gleichmäßig. Das russische Kapitel war fast abgeschlossen. Bald würde sie wieder in Deutschland sein.
Felicia öffnete die Augen, als sie ein Geräusch hörte. Maksim stand in der Tür. Sie war so überrascht, gleichzeitig so voller Ruhe, daß ihr ihr merkwürdiger Aufzug nicht einmal peinlich war.
Maksim hustete. »Entschuldige«, sagte er, »ich hätte mich bemerkbar machen sollen. Du schienst so versunken.«
Sie lächelte, und in ihrem Lächeln lag wenig Freude, um so mehr verhaltener Spott. »Schon gut«, sagte sie. Maksim trat ins Zimmer. »Du hast ein bißchen viel mitgemacht in den letzten Tagen«, sagte er, »wir... bewundern dich alle.«
»Dann wißt ihr, daß...«
»Ja.«
»Ich möchte jetzt bitte nicht darüber reden.«
Er nickte. »Das Fischerboot liegt bereit«, sagte er sachlich,»weil das Wetter so schlecht ist, verlangt der Mann noch mehr Geld, aber... Belle hat in ihrem Gepäck ja wohl...«
»Ja, sie hat Geld.«
»Ihr sollt morgen früh unten am Meer sein. Ich bringe euch hin. Danach gehe ich nach Petrograd zurück.«
»Ja.«
Er trat noch näher heran, kauerte sich neben sie, nahm ihre Hände. »Du bist sehr tapfer, Felicia. Ich weiß nicht, wer von uns ausgehalten hätte,
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