Sturmzeit
und sofort hingerichtet. Bei dem kleinsten Anzeichen von Gegenwehr schossen die Truppen ohne Zögern. Es war, als fürchte die junge Republik keinen Feind so sehr wie den aus dem linken Lager.
Tom Wolff, der am Fenster des Salons in der Prinzregentenstraße stand, lachte, als in der Ferne ein Maschinengewehrfeuer dröhnte.
»Jetzt räumen sie auf mit dem sozialistischen Gesindel«, sagte er.
Kat erhob sich vom Sofa, wo sie in einer Zeitschrift geblättert hatte, und trat vor einen Spiegel über dem Schreibtisch. »Ich finde Sie widerlich«, sagte sie kalt, »da werden Menschen erschossen, und Sie geben solche Kommentare dazu!« Sie zupfte ihre Locken zurecht. Im Spiegel konnte sie sehen, daß sich Wolff umgedreht hatte und sie beobachtete. In seinem Blick lag jenes Lauern, mit dem er stets seine Opfer, private und geschäftliche, bedachte.
»Sie sollten sich nicht immer vor der Wirklichkeit drücken, Kassandra. Man muß alles einmal gesehen haben. Ich habe gestern in Stadelheim eine Exekution erlebt. Die Soldaten waren nicht sehr geschickt und hatten einige ihrer Opfer nur verwundet. Die Leute krochen in ihrem eigenen Blut herum und riefen: Herzschuß! Herzschuß! Sie bekamen dann auch, was sie wollten.«
Kat wurde blaß. »Hören Sie auf! Manchmal denke ich, Sie finden Vergnügen an dem Leid anderer!«
»Es ist nicht ohne Reiz«, gab Wolff zu, »nichts auf der Welt ist ohne Reiz.«
Angewidert starrte Kat ihn an. Warum räume ich ihm überhaupt einen Platz in meinem Leben ein? fragte sie sich. Sie wußte die Antwort. Es waren diese stillen, endlosen, leeren Nachmittage, in denen sie nichts zu tun fand, als auf dem Sofa zu liegen und in Zeitschriften zu blättern. Es waren die grausam einsamen Stunden, in denen sie an Phillip und Andreas dachte, an die beiden Männer, die sie geliebt und verloren hatte. Es gab niemanden mehr für sie. So sehr sie sich dafür schämte, sie hätte den Teufel selber in ihr Zimmer gelassen, um dem Alleinsein und den Erinnerungen zu entfliehen.
Wolff spürte das. Er merkte, daß ihr Hochmut bröckelte, ihr Stolz rissig wurde. Es hatte sich gelohnt zu warten.
»Ich kann Sie nicht verstehen«, sagte Kat. »Sie müßten doch eigentlich auf seiten der Sozialisten sein. Schließlich haben Sie uns immer bekämpft.«
Seine Antwort klang kalt: »Ich stehe auf niemandes Seite als auf meiner eigenen. Und was euch und die Sozialisten betrifft: Ihr habt euch nur euer eigenes Grab geschaufelt, die Sozialisten hingegen schaufeln es für alle. Daher seid ihr mir die lieberen.«
»Bitte gehen Sie jetzt.«
»Ja. Ich gehe. Aber ich komme wieder. Jeden Tag werde ich Sie in Ihrer Einsamkeit trösten, Kassandra.« Er trat an sie heran und berührte sacht ihre Wange. Unwillig wich sie zurück, doch er lachte nur. »Wenn ihr am Ende seid, dann bleibt für Sie nur noch die stattliche Mitgift Ihres Vaters. Und damit werden Sie hingehen und heiraten.«
»Vielleicht. Aber bestimmt nicht Sie.«
»Wen sonst? Ihre romantischen Träume können Sie begraben, nachdem Ihr Offizier in Frankreich den Heldentod gestorben ist.«
»Er ist nicht gestorben. Er wird vermißt, und bis zu dem Tag, an dem ich etwas anderes höre, werde ich daran glauben, daß er lebt!«
Wolff ging zur Tür. »Irgendwann wachen selbst Sie auf«, sagte er kühl. »Sie werden dann weniger stolz sein. Und Sie werden sehen, daß Sie niemanden mehr haben - nur mich!«
Auf den ersten Blick hatte sich Lulinn seit den Tagen des ersten Kriegssommers nicht verändert. Noch immer war da das Herrenhaus, an dem der Efeu bis unters Dach kletterte, in dessen Fensterscheiben sich das Laub der Apfelbäume spiegelte. Über dem schillernden Teich im Obstgarten schwirrten Libellen, der Wind roch frisch und salzig, aus den Ställen klangen das Muhen der Kühe, das Klappern der Holzpantinen, die Flüche der Knechte. Und doch... wenn Felicia genauer hinsah, konnte sie die Zeichen beginnenden Verfalls wahrnehmen: Da waren brachliegende Äcker, auf denen das Unkraut wucherte, Scheunen, nur zur Hälfte gefüllt mit Getreide, ein kaputter Pflug im Hof, der vor sich hinrostete, weil ihn niemand reparierte. Zwischen Großvaters Rosen schossen Disteln aus dem Boden, auf dem Rasen hinter dem Zaun blühte der Löwenzahn. Es waren hundert kleine Hinweise, die sich Felicia quälend ins Bewußtsein brannten. Auch innen im Haus bemerkte sie Veränderungen. Hier fehlte eine alte Vase, dort ein kleines Barocktischchen. Der Kupferstich im Eßzimmer war verschwunden, und
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