Sturmzeit
»Benjamin Lavergne!« sagte sie. »Daß ich dich wiedersehe!« Sie freute sich tatsächlich, dem einstigen Jugendfreund plötzlich zu begegnen.
Benjamin hing an ihren Lippen, doch sie betrachtete ihn gelassen. Natürlich war er älter geworden, er mußte jetzt bald dreißig sein, doch es würde ihm, wie sie feststellte, nie gelingen, wie ein Mann auszusehen. Ein ewiges Kind...
Aber zweifellos besitzt er die berühmten inneren Werte, dachte Felicia, er ist treu wie Gold, ehrlich bis ins Mark und sanft wie ein Lamm. Ein Mann, mit dem man keine Schwierigkeiten hat.
»Du wußtest wohl gar nicht, daß Felicia hier ist?» sagte Modeste.
»Nein...«
»Wie geht es deinem Bruder?« erkundigte sich Felicia. »Und wie steht's auf Skollna?«
Benjamin löste seinen Blick keine Sekunde von ihr. »Albrecht ist gefallen. 1916 in der Seeschlacht am Skagerrak.«
»Oh... das tut mir leid...« Noch einer, lieber Himmel, hörte es denn nie auf?
»Unsere Generation ist lückenhaft geworden«, sagte Benjamin leise. Dann fuhr er fort: »Aber auf Skollna steht alles zum besten. Wir sind jetzt nach dem Krieg noch besser dran als vorher.«
»Wirklich?« Felicia nahm Benjamins Arm. Er spürte, daß seine Hand zu zittern begann. »Du mußt mir alles erzählen, Benjamin, was in den letzten Jahren geschehen ist!«
»Benjamin war an der Ostfront«, erklärte Modeste, »er ist 1916 in Rumänien in der Schlacht am Arges für seine Tapferkeit ausgezeichnet worden. Nicht wahr, Benjamin?«
»Ja, ja.«
Modeste betrachtete ihn mißtrauisch. Er war mit ihr verabredet gewesen, und nun sah er ständig Felicia an. Es war auch zu ärgerlich, wie elegant die Cousine immer auftrat. Sie, Modeste, mußte sich unbedingt auch solch ein Kleid kaufen. Sie überlegte, ob sie nicht irgendeine Gehässigkeit würde loswerden können, dann fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie wußte, Benjamin war ein Mann mit strengen Ehrbegriffen. »Ach, Benjamin, du weißt ja noch gar nicht, was die arme Felicia mitgemacht hat«, sagte sie. »Stell dir vor, seit einem halbem Jahr ist sie von ihrem Mann geschieden! Diese Schande! Ich meine, es ist natürlich keine Schande, aber die Leute reden und reden, und eine geschiedene Frau ist natürlich nicht mehr gesellschaftsfähig...«
Sie betrachtete zufrieden Benjamins fassungsloses Gesicht. Er sollte nur wissen, wes Geistes Kind die hübsche Felicia war.
Felicia und Benjamin heirateten im September 1919, und das sorgte im Landkreis Insterburg für weit mehr Aufregung als Erzbergers Reichsfinanzreform im selben Monat und der Polenaufstand in Oberschlesien vier Wochen zuvor. Benjamin Lavergne nahm sich eine geschiedene Frau mit Kind - alles inallem eine äußerst kompromittierende Angelegenheit. Die beiden betroffenen Familien reagierten unterschiedlich, aber heftig: Benjamins Eltern waren entsetzt. Eine geschiedene Schwiegertochter mit Kind! Sie kapitulierten zwar vor der heftigen Verliebtheit ihres Sohnes, betrachteten Felicia aber mit tiefstem Mißtrauen.
Elsa reagierte bestürzt und erschreckt, denn sie hatte gehofft, Felicia werde nach ihrer Scheidung ein völlig zurückgezogenes, stilles Leben führen. Statt dessen trat sie, geschieden von ihrem ersten Mann, mit einem zweiten vor den Altar, während in der vordersten Kirchenreihe ihr einjähriges Kind saß, das von einem dritten Mann stammte. Es konnte einer Mutter nur schwindelig werden dabei.
Victor und Gertrud, die gehofft hatten, Benjamin werde Modeste heiraten, entrüsteten sich ganz offen über das junge Paar und prophezeiten dieser Liaison ein schnelles Ende (und Benjamin ein böses Erwachen)!
Jo, der als frisch immatrikulierter Jurastudent aus Berlin angereist kam, nahm seine Schwester in die Arme und flüsterte:
»Bist du sicher, daß das richtig ist?« Und Linda, die keinen Fußbreit hinter die Fassaden schaute, betrachtete den mondgesichtigen Bräutigam nur mit leiser Verwunderung. Laetitia war die einzige, die alles wußte und begriff. Sie hatte auch vor der Hochzeit dafür gesorgt, daß Felicia sich eines makellosen Rufes in den Augen ihres Zukünftigen erfreuen durfte. »Ihr Mann verließ sie wegen des Kindes«, vertraute sie Benjamin an, »er... wollte wohl keine Kinder.« Sie schwieg bekümmert, während Benjamin ganz blaß wurde. Abscheulich, dieser Alex Lombard, einfach abscheulich! Aber um so mehr brauchte Felicia nun ihn, einen Mann, der sie wirklich liebte und für sie sorgte. Ein Leben lang wollte er für sie da sein und sie die Enttäuschung
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