Sturmzeit
um. »Jo, wir müssen nach Lulinn. Dort treibt alles seinem Ende zu, weil Onkel Victor völlig unfähig ist, das Gut zu bewirtschaften. So unauffällig und diskret wie möglich müssen wir versuchen, unsere Finger ins Spiel zu bekommen.«
»Was meinst du? Nach Lulinn... jetzt?«
»Es ist alles, was wir haben!« Felicia sprach hastig. »Wir dürfen nicht zulassen, daß Victor es verkommen läßt. Gerade in diesen Zeiten brauchen wir einen Platz, von dem uns niemand vertreiben kann. Wer weiß denn, was noch alles passiert. Wir haben eine beginnende Geldentwertung, und wenn die weiter fortschreitet, dann rettet uns nur Grundbesitz. Verstehst du?«
»Ich... habe nie gelernt, ein Gut...«
»Ich auch nicht. Aber zusammen schaffen wir das. O Jo!« Sie trat auf ihn zu, ergriff seine Hände. Seine Augen waren so stumpf, so ohne Leben; nach innen gerichtet, als folgten sie dort den Bildern der Vergangenheit. »Jo! Nicht zurückschauen!
Bitte. Der Krieg ist vorbei, und wir leben. Wir müssen leben!«
»Ja«, sagte er bitter, »wir müssen leben.«
»Jo! Ich bin dumm, dich gleich so zu überfallen. Du kommst von der Front, und ich überschütte dich mit tausend Plänen. Du siehst so traurig aus. Vielleicht solltest du doch reden. Erzähl mir von... von Christian!«
»Christian war auf der Stelle tot«, sagte Jo und hoffte, daß sein Gesicht die Lüge nicht verriet. Was nützte es noch zu erzählen, daß Christian mit seinem Bauchschuß eine Nacht lang in einer Scheune gelegen hatte, zwischen anderen stöhnenden und sterbenden Soldaten, daß er vor Schmerzen Stunde um Stunde geschrien, nach seiner Mutter, seinem Vater, nach Jorias gerufen hatte, daß er, Jo, in den frühen Morgenstunden zu ihm gekommen war, seinen Kopf in seinem Schoß gehalten und gebetet hatte, sein Bruder möge endlich sterben dürfen. Nie, er hatte es sich geschworen, sollten Elsa und Felicia von dieser langen furchtbaren Nacht erfahren, nie etwas wissen von der Angst und dem Grauen in Christians letzten Minuten. Aber für ihn würde es gegenwärtig bleiben sein ganzes Leben lang. Auf einmal merkte er, daß er seine Tränen nicht zurückhalten konnte. Er schluchzte auf, und im selben Moment schlangen sich Felicias Arme um ihn. Es schien ihm, als seien diese Arme der einzige Halt, den es auf dieser irrsinnigen, gewalttätigen Erde noch gab. Mit der Hand strich sie ihm über die Haare.
»Wein ruhig«, flüsterte sie, »wein, solang du willst. Wenn du es nicht vergessen kannst, dann wein solange, bis du es wenigstens erträgst.«
Sie hielt ihn fest, während er weinte, um Christian, Jorias,Onkel Leo und alle anderen. Endlich hob er den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er leise. Seine Augen waren noch immer von einem hoffnungslosen Grauen erfüllt. Felicia kannte sie gut, diese verwüsteten Gesichter, sie hatte sie oft genug in den letzten Tagen bei heimkehrenden Soldaten auf den Straßen Berlins gesehen.
»Es wird alles wieder gut, Jo. Glaub mir, es wird wieder gut.«
Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. »Wo ist Phillip? Ist er auch schon in Berlin? Oder ist er gleich nach München gefahren, zu Kat?«
Jo schüttelte den Kopf. Leise entgegnete er: »Ich wollte es Linda noch nicht sagen. Seit einem der letzten Gefechte in der Nähe von Reims wird Phillip vermißt. Wahrscheinlich ist er tot.«
III. BUCH
1
Maksim hatte einen leichten Schlaf, und so wachte er gleich auf, als er spürte, daß sich Mascha unruhig bewegte.
»Was ist los?« fragte er. »Bist du krank?«
»Nein«, entgegnete sie. Durch die Vorhänge fiel das Licht der Straßenlaternen, so daß Maksim Mascha schattenhaft erkennen konnte. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ihr feingeschnittenes Profil hob sich scharf vom Hintergrund der Wand ab. »Ich muß nur nachdenken. Mich verfolgen so viele Bilder.«
Maksim wußte, wovon sie sprach. Vor drei Tagen hatten sie erfahren, daß es in Berlin Massendemonstrationen und blutige Straßenschlachten gegeben hatte, initiiert vom Spartakusbund, und daß Freikorpstruppen, die gegen die Aufständischen vorgegangen waren, die Führer der Spartakisten, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verhaftet und ohne Verfahren erschossen hatten.
Rosa Luxemburg ermordet! Zum ersten Mal hatte Maksim erlebt, daß Mascha unter einem Keulenschlag schwankte. »Von allen Menschen gerade sie! Gerade sie! Sie war eine überzeugte Pazifistin, eine Sozialistin, eine brillante Denkerin! Wie müssen sie sie gefürchtet haben, daß sie nur diesen einen Weg
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