Sturmzeit
Großvaters Schachspiel aus Elfenbein, das im Wohnzimmer in einer Vitrine gestanden hatte, ebenfalls. Felicia befragte Tante Gertrud deswegen, die ihr kühl erklärte, Victor habe diese Dinge verkauft, und im übrigen gehe sie das gar nichts an.
Felicia geriet außer sich. »Verkauft? Das gibt es doch gar nicht! Wie kommt er dazu?«
Gertrud war in den letzten Jahren trotz des Krieges noch dicker geworden. Ihre dünnen Haare hatten den letzten Rest Farbe verloren und präsentierten sich jetzt in einem etwas undefinierbaren, fahlen Gelb. Es paßte ihr ganz und gar nicht, daß Felicia plötzlich auf Lulinn aufgetaucht war.
Sie verfolgte die Nichte beständig mit lauerndem Blick, um herauszufinden, was diese anstellte, um ihre dichten dunkelbraunen Haare so glänzend und lockig zu erhalten - ein Phänomen, hinter dem sie unlautere Tricks vermutete. »Victor ist der Erbe und kann tun und lassen, was er will«, entgegnete sie nun, »er brauchte Geld, um zu investieren. Kriegsanleihen.«
»Kriegsanleihen!« höhnte Felicia. »Was Schlaueres ist ihm wohl nicht eingefallen!«
»Sei nicht so frech! Dieser Krieg wurde von der Regierung fast ausschließlich durch Kriegsanleihen finanziert, und es war daher eine patriotische Pflicht...«
»Hör doch auf mit patriotischer Pflicht! Damit hatte es Onkel Victor doch sonst auch nicht so. Wahrscheinlich hat er mit den Kriegsanleihen sein Gewissen beruhigt, während sich andere Männer an der Front totschießen ließen!«
Gertrud plusterte sich auf wie ein Huhn. »So etwas zu sagen!
Victor hatte wichtige Aufgaben in der Heimat. Er mußte Lulinn erhalten und...«
»O Gott«, sagte Felicia und wandte sich ab. »Lulinn erhalten!
Hätte er das doch wenigstens getan! Aber nicht einmal das ist ihm geglückt. Ich frage mich wirklich, was er während der letzten vier Jahre gemacht hat!«
In gewisser Weise fragte sich Victor das auch. Er spürte durchaus, daß das Schiff unter ihm zu sinken drohte. Er hatte Schulden - viel mehr, als irgend jemand ahnte, und es war ihm äußerst unangenehm, daß auf einmal die dreiste Felicia auftauchte und mit schmalen Augen Einblick in die Wirtschaftsbücher verlangte. Mit Jo, den sie in ihrem Schlepptau hatte und dessen Augen dreinblickten, als hätten sie den Weltuntergang selber gesehen, wäre er fertig geworden, aber Felicia war weder mit Freundlichkeit zu korrumpieren noch durch Drohungen einzuschüchtern. Der einzige Mensch, dessen Wohlwollen er errang, war Linda, aber selbst Victor begriff, daßer das kaum als einen Sieg bezeichnen konnte. Stundenlang hielt er ihr politische Vorträge und entrüstete sich über das
»Schanddiktat« von Versailles, das in diesen warmen Junitagen vom deutschen Außenminister unterzeichnet wurde und der Republik neben Reparationskosten auch die Anerkennung der Kriegsschuld aufzwang. »Dagegen müssen wir einmütig die Waffen erheben!« wetterte Victor, der in seinem ganzen Leben noch keine Waffe erhoben hatte, und Felicia, die das hörte, fuhr ihn an: »Ja, damit es noch einmal ein paar Millionen Tote gibt!
Damit noch mehr Elend über Europa kommt! Du ahnst gar nicht, wie satt ich dein dummes Gerede habe!« Sie schmetterte die Tür hinter sich zu. Draußen im Gang setzte sie sich erschöpft auf die unterste Treppenstufe und stützte den Kopf in die Hände. Sie wußte, es war möglich, Lulinn wieder zur Blüte zu bringen. Nun, da der Krieg vorbei war, würde es auch schnell genügend Arbeitskräfte geben. Aber irgend jemand mußte das Gut leiten, sonst ging alles im Chaos unter. Victor war völlig ungeeignet, und Laetitia zu alt. Und dann mußten sie auch noch die Schulden abtragen. Ich schaffe es nicht allein, dachte sie, ich schaffe es einfach nicht!
Ein Schatten fiel über sie. Jo war leise herangekommen. Er setzte sich neben sie. »Ich bin dir keine große Hilfe, wie?«fragte er leise. Sie lächelte und legte ihre Hände über seine. »Du bist nicht hilfloser als ich, Jo. Ein Gut wie Lulinn zu führen, haben wir beide nicht gelernt.«
»Du willst es unter allen Umständen halten?«
»Ja. Und nicht nur wegen ein paar sentimentaler
Erinnerungen. Ich habe wirklich Angst um unsere Existenz. Von Alex bin ich geschieden, und seine Fabrik geht sowieso pleite. Vater hat uns eine gewisse Summe Geld hinterlassen, das stimmt, aber es gibt Leute, die sagen, daß wir einer furchtbaren Inflation entgegengehen. Unser Geld könnte plötzlich nichts mehr wert sein. Dann wäre Lulinn das einzige, was uns bleibt.
Ich
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