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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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aller Erkenntnisse der Obersten Heeresleitung um die unabwendbare Niederlage, noch Gefechte an der Westfront gegeben. Nun stand er vor ihr, mit rotumränderten Augen und hohlen Wangen. Linda starrte ihn an. Er war ein anderer geworden.
    »Du mußt gleich ein heißes Bad nehmen«, sagte sie, nachdem sie ihn wieder und wieder umarmt hatte, »und die Köchin soll dir etwas zu essen machen. O Jo, du mußt dir Paul ansehen, er ist so groß geworden. Ich hätte es nicht ausgehalten, wenn er und ich allein zurückgeblieben wären!«
    Jo lächelte, aber er wünschte, seine Frau würde nicht so viel reden. Er fühlte eine tiefe Erschöpfung, und es schien ihm, als müsse er Jahre schlafen und werde sich doch nie davon erholen. Inmitten der gepflegten, hübschen Wohnung, umfaßt von Lindas Armen, seinen kleinen Sohn auf dem Schoß, sah er nur die starren Gesichter der Toten vor sich, hörte das Krachen der Granaten, schmeckte den Staub der Schützengräben auf den Lippen, roch das Blut der Verwundeten, wurde eingeholt von Hunger, Kälte und Todesangst der vergangenen Jahre. Er betrachtete Linda und versuchte sich an ihrem zärtlichen, strahlenden Gesicht festzuhalten, in ihren sanften Augen Vergessen zu finden. Sie hatte sich schnell umgezogen, trug ein Kleid aus schwarzem Samt mit einem breiten roten Gürtel. Ihr schweres honigblondes Haar war zurückgekämmt, an ihren Ohren blitzten die Rubine, die er ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie duftete nach einem blumigen Parfüm, ein Relikt aus Vorkriegstagen, und ihr Gesicht war ohne Bitterkeit, weiß und fein wie das einer schönen Porzellanpuppe. Warum nur konnte es die anderen Bilder nicht aus seinem Gedächtnis vertreiben?
    Die Verletzten, die ihn anflehten, sie zu erschießen, die Kameraden, die neben ihm in die Knie brachen, die verzweifelte Todesangst in den schwarzen Augen der Kavalleriepferde, die Gesichter der Feinde, wenn er im Nahkampf plötzlich dicht vor ihnen war, das Bajonett in den Händen, und sie wußten, daß sie jetzt sterben würden.
    Warum habe ich es eigentlich überlebt, hätte er um ein Haar gefragt, aber er ahnte, daß sich dann Schrecken auf den Gesichtern Lindas und seiner Mutter ausbreiten würde. Fast fluchtartig verließ er das Wohnzimmer, er mußte Felicia sehen. Sie stand in ihrem Zimmer, sehr hübsch anzusehen in einem neuen Kleid aus grauer Wolle, an dessen Ausschnitt sie eine blaßrosa Papierrose befestigt hatte. Die doppelreihige Perlenkette um ihren Hals machte sie älter. Ihr Gesicht wirkte ernster und ruhiger als früher, der Zauber ihrer grauen Augen war ein anderer geworden. Jo begriff es sofort: An ihr waren die letzten Jahre nicht spurlos vorübergegangen.
    Am meisten überraschte ihn das Kind, das sie in den Armen hielt.
    Er starrte es an, als habe er so etwas noch nie gesehen, bis Felicia schließlich auflachte. »Mach nicht so ein Gesicht, Jo. Das ist meine Tochter. Sie ist drei Monate alt.«
    Da Jo nicht genau über den Ablauf der Ereignisse unterrichtet war, zweifelte er wenigstens nicht an Alex' Vaterschaft, aber er brauchte ein paar Minuten, um sich Felicia als Mutter vorstellen zu können. »Wie heißt sie?« fragte er dann.
    »Belle.«
    »Belle... Ich nehme an, du bist in Berlin, weil dich die Räterevolution aus München vertrieben hat?«
    Sie zögerte. »Nein. Ich bin hier, weil ich mich von Alex scheiden lasse.«
    »Was?«
    »Ich weiß, ich benehme mich fürchterlich daneben. Mutter ist auch schon ganz verzweifelt. Aber Alex will fort - nach Amerika oder etwas ähnliches. Wenn ich das dem Richter erzähle und dabei mein rührendes Baby auf dem Arm schaukele, habe ich die Scheidung sofort!« Sie lachte. »Aber ich bin dann natürlich nicht mehr gesellschaftsfähig.«
    »Ach, ich denke, solche Dinge zählen heute kaum mehr. So viele Tote, wer soll sich da noch über eine geschiedene Frau aufregen?« Jo betrachtete seine Schwester nachdenklich. »Du hast dich verändert. Willst du über alles reden?«
    »Nein. Erzähl du lieber.«
    »Ich will auch nicht reden.«
    Sie nickte. »Stimmt es, daß der Kaiser abgedankt hat?« fragte sie sachlich.
    »Die Extrablätter verkünden es. Jetzt bleibt nur zu hoffen, daß es Ebert gelingt, dieses Land zur parlamentarischen Demokratie hinzuführen. Nicht, daß er ein zweiter Kerenski wird und die Linke politisch die Macht übernimmt.«
    »Ja...« Felicia schien nicht recht hinzuhören. Sie legte ihr Baby in sein Bett zurück, dann drehte sie sich mit einer raschen Bewegung zu ihrem Bruder

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