Sturmzeit
ihrer Beziehung, der sich nachts hinter der verschlossenen Tür ihres Schlafzimmers hätte abspielen sollen. Benjamins Zärtlichkeitsbedürfnis war beinahe unstillbar, und fatalerweise hatte allein der Gedanke an Felicia eine erregende Wirkung auf ihn, so daß es ihr nicht das geringste nützte, in seiner Gegenwart auf Lippenstift, Parfüm und tiefausgeschnittene Nachthemden zu verzichten.
Ich könnte Lockenwickler tragen und mein Gesicht mit einer dicken Cremeschicht bedecken, dachte sie einmal zornig, das würde ihn immer noch nicht abschrecken!
Sie empfand es als kompliziert und ermüdend, ständig neue Ausreden zu erdenken, und Benjamin wiederum registrierte, daß sie ihn nur mit zusammengebissenen Zähnen und abgewandtem Gesicht erduldete. Bekümmert fragte er sich, woran das liegen könnte. Er wußte, er war rücksichtsvoll, geduldig und sanft. Sie konnte ihm nichts vorwerfen!
Aber - er kannte sie nicht. Und er wußte nicht, daß sie oft bis zum Morgengrauen wach neben ihm lag, zur Decke starrte, grübelte und sich selbst nicht begriff. Ihr Abscheu, ihre Kälte erschreckten sie. Sie liebte Benjamin nicht, aber sie wollte ihm nicht weh tun. Es hätte sie beruhigt, ihn glücklich zu sehen, aber es wollte ihr nicht gelingen, ihn glücklich zu machen. Mit seiner Hilfe war es ein Kinderspiel gewesen, Lulinn vor Victors ruinösen Geschäftspraktiken zu retten, aber gerade weil es so wenig Schwierigkeiten gegeben hatte, schien das Schicksal nun nachträglich seinen Tribut zu fordern. Ein Leben lang würde sie an diesen großen Jungen gekettet sein. Mehr und mehr sehnte sie sich in den kalten, dunklen Winternächten des beginnenden Jahres 1920 nach Maksim, was sie nicht allzu sehr verwunderte, denn nach ihm hatte sie sich immer gesehnt. Zu ihrer Überraschung verlangte es sie aber auch - nach Alex. Sie schalt sich undankbar dem Mann gegenüber, der ihr nach Jahren der Unsicherheit endlich Ruhe geschenkt hatte, bis sie plötzlich begriff, daß dies gerade der Punkt war. Sie wollte keine Ruhe. An den Männern, die sie liebte, wollte sie ihre Kräfte messen, sie wollte das Wechselspiel von Sieg und Niederlage, sie wollte einen Mann, der sie genauso beherrschte wie sie ihn. Beide, Alex und Maksim, hatten jeder auf seine Weise dieses Bedürfnis in ihr befriedigt, bloß verstand sie das viel zu spät. Oft saß sie nachts im Bett, lauschte dem Heulen des Februarsturms und beobachtete dunkle, zerfetzte Wolken, die hinter dem Fenster über den Himmel jagten.
Die Zeichen der Zeit standen keineswegs auf Ruhe und Frieden. Sie wollte ihren Anteil haben. Sie fühlte sich jung, gesund und selbstsicher, und alles nur denkbar mögliche sah sie im Leben - aber kein langweiliges Wiegenlied.
2
Im November des Jahres 1920 wurde ihr zweites Kind geboren, abermals ein Mädchen, und es wurde nach Benjamins Mutter Susanne genannt.
Felicia, die sich keineswegs darum gerissen hatte, überhaupt je wieder ein Kind zu bekommen, mußte sich viel Mühe geben, es wenigstens wohlwollend zu behandeln.
Das Baby konnte schließlich nichts für ihr Unglück. Aber so sehr sie sich anstrengte, sie konnte nicht das gleiche für die Kleine empfinden wie für Belle. Ihre ältere Tochter war nun über zwei Jahre alt, ein bezaubernd hübsches Geschöpf mit grauen Augen und dunklem Haar, und Felicia betrachtete sie unwillkürlich mit romantischen Gedanken; ein sündig empfangenes Kind, das sie an Rußland erinnerte, an Revolution, Flucht, Schnee und Liebe. In der grenzenlosen Langeweile ihres eintönigen Daseins auf Skollna war sie auf die Empfindungen angewiesen, die ihr Gedächtnis bewahrt und - durch die Jahre hin - auch ein wenig verklärt hatte. Benjamins Tochter hingegen...
Sie war nach der Geburt dieses Kindes noch reizbarer und unruhiger als zuvor. Was sollte sie tun? Täglich machte sie neue Pläne, die sie dann wieder verwarf. Sie wollte nach Berlin, nach München, illegal nach Petrograd und Maksim wiedersehen. Hinüber nach Amerika, so wie Alex. Sie wollte etwas Verrücktes, Unvernünftiges tun, nur um der Qual ihrer inneren Rastlosigkeit zu entfliehen. Sie war jetzt vierundzwanzig, und Skollna konnte einfach nicht ihre Endstation sein, dieses düstere Haus mit seinen hohen Räumen, denen die Anmut Lulinns fehlte, und die vielen lauten Stimmen, die dort alle Zimmer erfüllten. Auf Skollna sprach man leise und kultiviert, man lächelte, statt zu lachen. Die einzige, die schrie, war Baby Susanne, und dann zuckte Felicia jedesmal zusammen. So
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