Sturmzeit
zurück?«Phillip sah auf. »Wie?«
»Heute nacht hast du den Entschluß gefaßt, nach Deutschland zu gehen.«
»Woher...«
»Woher ich das weiß? Ich kenne dich, Phillip. Ich habe dich gesehen, als du zerbrochen warst, und ich sehe dich jetzt. Du bist ein anderer geworden. Du brauchst nicht länger vor dir selber davonzulaufen. Du kannst dein Leben wieder dort aufnehmen, wo es 1914 endete.«
Phillips dunkle Augen irrten zum Fenster hinaus in den blühenden Vorgarten. »Nein. Es wird nie wieder sein, wie es war.«
Claire verzog den Mund. »Bemitleide dich nicht selbst«, sagte sie kalt.
Phillip sah sie an. »Mich bemitleide ich nicht.«
»O... mich bitte auch nicht. Dazu besteht kein Grund. Ich war vor dir glücklich, und ich werde es nach dir sein. Und im übrigen...« Claire näherte sich vorsichtshalber der Tür, denn sie fürchtete, daß sie gleich überstürzt die Küche würde verlassen müssen, »im übrigen bist du ein Deutscher! Und ich werde nie aufhören, die Deutschen zu hassen, solange ich lebe!« Sie lief hinaus. Laut krachend fiel die Tür hinter ihr zu.
In München verließ Sara den Kindergarten, um nach Hause zu gehen, und als sie aus dem Tor trat, sagte eine Stimme: »Guten Abend, Sara!« Es war Martin, der neben dem Portal gewartet hatte. »Ich wußte nicht genau, wann Sie frei haben«, fuhr er fort, »aber ich dachte mir, wenn ich hier lange genug stehe, werden Sie mir irgendwann über den Weg laufen.«
Sara starrte ihn an. Es war wie immer, ihre Schüchternheit lähmte sie und machte sie sprachlos. »Ja...«, sagte sie schließlich mühsam.
Martin lächelte. »Darf ich Sie zum Essen einladen?« Es war eine Situation, wie sie Sara nicht kannte, und sie fühlte sich ihr kaum gewachsen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie schließlich,
»ich bin etwas müde und wahrscheinlich keine besonders gute Gesellschafterin.«
»Ich lege gar keinen Wert auf eine gute Gesellschafterin. Ich will ganz ernsthaft mit Ihnen reden.« Er nahm ihren Arm. »Wir wurden neulich unterbrochen, erinnern Sie sich?« Sara nickte, und während sie neben ihm die Straße überquerte, hatte sie das Gefühl, als beginne sich ihr Leben unerwartet auf eine seltsame Weise zu verwirren.
Irgendwo weit hinter dem Ural zwischen endlosen Wäldern und strömenden Flüssen hatte Mascha Iwanowna an diesem Morgen ihre Holzpritsche in der Baracke nicht verlassen. Die anderen Frauen waren zum Straßenbau ausgerückt - wobei es sich weniger um eine Straße als um die Befestigung eines Feldweges nach den Winterstürmen handelte -, aber Mascha hatte nicht die Kraft gefunden, sich ihnen anzuschließen. Am Tag zuvor war sie bei der Arbeit zweimal zusammengebrochen und hatte schließlich die Erlaubnis erhalten, frühzeitig ins Lager zurückzukehren und sich hinzulegen. Die Krankenschwester, die sie untersuchte, diagnostizierte Unterernährung - woran sie alle litten -, Kreislaufschwäche und eine unausgeheilte Bronchitis. Der endlose sibirische Winter mit seinem eisigen Wind und seinen kalten Stürmen hatte von den meisten Lagerinsassen einen hohen Tribut gefordert: Grippe, Lungenentzündung, Fieber, Keuchhusten. Es gab keine Medikamente, keine kräftige Nahrung, nicht genügend Decken, um die Kranken bei gleichmäßiger Wärme zu halten. Durch die dünnen Holzwände der Baracken pfiff der Wind. Zum Waschen mußten die Frauen morgens das Wasser vom Fluß holen, das Eis aufhacken und die schweren Eimer den weiten Weg bis zum Lager schleppen. Wer allzu oft umkippte, wurde von der harten Arbeit befreit und zum Küchendienst eingeteilt; eine begehrte Aufgabe, weil es neben dem Herd warm war und man sich, ehe die anderen zurückkamen, die besten Bissen aus dem Essenzusammensuchen konnte.Doch selbst zur Küchenarbeit fühlte sich Mascha an diesemTag zu schwach. Sie hatte den Eindruck, kaum die Hand heben zu können. Sie fühlte sich selbst den Puls und stellte resigniert fest, daß es ihn kaum mehr gab. Zu ausgelaugt, um sich auflehnen zu wollen, beschloß sie, nun zu sterben. Als Elisabeth, verurteilt zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit und im selben Lager gelandet wie Mascha, am späten Nachmittag in die Baracke kam, fand sie Mascha im Dämmerschlaf, die durchsichtig blassen Lider über den Augen geschlossen, die Hände ruhig auf der wollenen Decke. Weder Brot noch Wasser hatte sie angerührt. Elisabeth, die wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes für ein halbes Jahr zum Küchendienst abgestellt worden war, hatte Mascha am Morgen einen
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