Sturmzeit
halte die Nazis für die größte Gefahr, die uns zur Zeit droht. Das Elend des Volkes kommt ihnen zustatten, und...«
»Wären die Kommunisten besser?« Sara stellte diese Frage ganz unbefangen, aber sie brachte Martin damit völlig aus dem Konzept.
»Wären die Kommunisten besser?« wiederholte er ungläubig.
»Hören Sie, Sara, was wissen Sie vom Kommunismus? Nur das, was regierungstreue Zeitungen schreiben, oder schlimmer, was ein Mann wie Hitler darüber sagt? Der Kommunismus ist...«
Die Tür ging auf, und Nicola trat ein. »Ach, hier bist du, Martin. Guten Tag, Sara!«
»Guten Tag«, murmelte Sara. Aus ihnen allen unbegreiflichen Gründen herrschte plötzlich eine gespannte Stimmung im Raum. Martin fixierte Sara wie eine Schlange das Kaninchen. Nicola lachte auf und machte ein paar tänzelnde Schritte auf das Grammophon zu. »Mögt ihr Walzer hören? Mir ist jetzt nach Wiener Walzer.«
»Bitte nicht«, sagte Martin gequält. Von draußen hörten sie jemanden laut pfeifend die Treppe hinaufsteigen. Diese aufdringliche Art hatte nur Wolff. Nicola starrte auf die Tür, als vermute sie dahinter ein Gespenst. »Ich möchte wissen, weshalb der inzwischen jeden Tag hier ist! Ich meine, Felicia hat ihm einen Schlüssel gegeben und die Erlaubnis, ihr Arbeitszimmerzu betreten, aber langsam sieht es so aus, als gedenke er, hier einzuziehen.«
»Wir können nichts tun«, meinte Martin, »wir sind selber nur Gäste.«
»In der Tat. Nur Kat könnte ihn rauswerfen, aber es fragt sich, ob er sich nicht einen Dreck um das schert, was Kat ihm sagt.«
Wie auf ein Stichwort ging die Tür auf, und Kat erschien. Etwas erstaunt blickte sie die drei anderen an. »Ist hier eine Geheimkonferenz, oder was? Wenn ja, dann habe ich gleich ein brisantes Thema für euch. Wolff ist wieder im Haus!«
»Wissen wir«, sagte Nicola, »wir überlegten gerade, wie man ihn am besten rausschmeißen kann.«
»Er ist sehr guter Laune«, fuhr Kat fort, »er sah aus, als wolle er jeden Moment in Triumphgeschrei ausbrechen.«
»Felicia hat auf keines deiner Telegramme reagiert, nicht?«fragte Sara.
Kat schüttelte den Kopf. »Es ist, als sei sie vom Erdboden verschwunden.«
»Ich finde, wir sollten die Geheimkonferenz in einem Café fortsetzen«, schlug Nicola vor, »da kommen uns bestimmt die besseren Einfälle.«
Als sie hinaus in den Gang traten, vernahmen sie vom oberen Treppenabsatz lautes Gelächter. Tom Wolff lehnte sich über das Geländer. »Soviel blühendes Leben!« rief er. »O Gott, ich möchte auch sagen: Gib meine Jugend mir zurück!«
Martin verzog das Gesicht.
Wolff fuhr ungerührt fort: »Wie war das mit des Hasses Kraft und der Macht der Liebe?« Sein Blick glitt über die jungen Leute hinweg, saugte sich an Kat fest. »Ich bin jetzt über vierzig Jahre alt, aber ich kann nur eines feststellen: Keines von beidem, weder Haß noch Liebe, erlischt mit dem Alter. Im Gegenteil, die Gefühle werden heftiger, die Erfüllung der Sehnsucht erscheint süßer und süßer. Aber das werdet ihr alle noch feststellen. Das schönste ist der Triumph, um so mehr, je länger man ihn herbeigesehnt hat.« Er drehte sich um, wandte sich zum Gehen.
»Einen schönen Abend wünsche ich euch!« Lachend verschwand er in Felicias Arbeitszimmer.
Die vier unten sahen einander an.
»Ist der noch ganz normal?« fragte Nicola.
Kat bekam schmale Augen. »O ja. Der tut uns nicht den Gefallen, den Verstand zu verlieren. Er weiß ganz genau, was er sagt, und ich weiß jetzt endlich, was ich tun werde.«
»Was?«
»Ich fahre nach Insterburg. Ich hole Felicia, und wenn ich sie in Handschellen nach München bringen muß.«
Der Tag, an dem Kat in den Zug stieg, sah nicht so aus, als bahnten sich Ereignisse an, die nur im Chaos ihr Ende finden konnten. Der laue Aprilwind verriet nichts vom zunehmend raschen Verfall der Reichswährung; Schatten und Elend der Republik verbargen sich hinter blühenden Kirschbäumen und goldfunkelndem Ginster. Über Münchens Himmel zogen föhnige Wattewolken. Am Stachus fand eine Propagandaveranstaltung der NSDAP statt. Besonders das Versprechen des Redners, seine Partei werde alles tun, ihren Einfluß in Deutschland zu verstärken, und dann entschieden gegen die Arbeitslosigkeit vorgehen, stieß auf großen Beifall. Die Hörer, zumeist arbeitslose Männer - denn nur sie hatten Zeit, am frühen Morgen Straßenveranstaltungen beizuwohnen -, applaudierten und nickten einander zu. Ja, es wurde Zeit, daß jemand ihre Probleme
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