Sturmzeit
Claire in die Küche zurückkehrte, war sie erschöpft und bekreuzigte sich hastig vor dem Bild der Mutter Gottes über dem Hausaltar, weil ihr aufopferungsvolles Tun wieder einmal von sündigen Gedanken begleitet gewesen war: Sie hatte gewünscht, ihr Vater wäre damals, 1917, seinen Verletzungen erlegen.
Phillip Rath saß am Küchentisch, verschlafen noch und unrasiert, ein wenig beschämt, weil ihm der Stand der Sonne verriet, daß es schon auf Mittag zuging. Er war sehr spät ins Bett gekommen, bis drei Uhr in der Frühe hatte Claire ihn auf dem Hof hin und her gehen hören. Einmal war sie aufgestanden und ans Fenster getreten. Sie konnte sein Holzbein auf dem Pflaster hören und den glimmenden Funken seiner Zigarette durch die Dunkelheit leuchten sehen. Seine Unruhe schien ihr fast greifbar. Sie wußte, sie würde ihn bald verlieren. Der junge deutsche Offizier war vor beinahe vier Jahren, kurz vor Kriegsende, in dem französischen Lazarett gelandet, in dem Claire Dienst tat. Man hatte ihn halbtot aus dem Schlamm eines Flußbettes gefischt. Claire hatte einen unbändigen Haß auf die Deutschen gehabt, aber der war zerbrochen über dem, was sie nun sehen mußte: Phillip irrte durch fiebrige Angstträume, sah sich den Schrecken seiner Erinnerung ausgeliefert, schrie vor Verzweiflung, kämpfte gegen unsichtbare Feinde, versuchte aufzustehen und wegzulaufen. Sie mußten ihm sein rechtes Bein abnehmen, und der Arzt sagte zu Claire: »Er hat einen schweren Schock. Im Moment weiß er vermutlich weder wer noch wo er ist. Worin eine gewisse Barmherzigkeit liegt.«
Phillip fand sein Gedächtnis rasch wieder, ohne daß ihn das von seinen apokalyptischen Träumen hätte befreien können. Was immer es gewesen war, was sich seinen Augen geboten hatte, ehe er in den Graben rutschte und die Besinnung verlor, es mußte etwas wie eine Essenz allen Schreckens gewesen sein. Als er wieder sprechen konnte, gab es nur eines, was er immer und immer wieder sagte: »Ich will nicht mehr zurück. Ich will nicht mehr zurück. Nie wieder.«
Ohne Haß, jedoch nicht ganz frei von einer gewissen Brutalität, erwiderte Claire: »So schnell können Sie auch nicht zurück. Ich fürchte, Sie kommen jetzt erst einmal in Kriegsgefangenschaft.« Nach seiner Entlassung tauchte er eines Tages auf Claires Hof auf. Er mußte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, um herauszufinden, wo sie wohnte. Sie war der einzige Mensch, an den er sich wenden konnte, und er tat es mit der verzweifelten Anhänglichkeit eines herrenlosen Hundes.
»Sie haben eine Familie in Deutschland! Man wird um Sie trauern. Jeder wird glauben, Sie seien gefallen.«
»Ich bin gefallen.«
»Aber Sie leben.«
»Nein.«
»Erlauben Sie mir, Ihrer Familie zu schreiben.«
»Nein.«
»Was wollen Sie? Was wollen Sie hier, bei mir?«
»Ich will wieder anfangen zu leben.«
»Ich habe mir einmal geschworen, jedem Deutschen, der mir in die Hände fällt, die Kehle durchzuschneiden. Haben Sie keine Angst?«
»Nein.«
»Wollen Sie nicht Ihrer Familie...« Sie drehten sich im Kreis. Claire kapitulierte am Ende. Ich werde mich nicht in ihn verlieben, gelobte sie sich im stillen. Denn irgendwann hat er den Schrecken überwunden, und dann geht er nach Hause. In der Einsamkeit, die sie praktisch nur mit ihm teilte - denn ihren Vater konnte sie kaum mehr zu den Lebenden zählen, und ihre Mutter war seit zehn Jahren tot -, fiel es Claire schwer, an ihrem Gelöbnis festzuhalten. Einmal küßte Phillip sie, und sie hätte sich in seine Arme fallen lassen mögen, aber sie wich zurück und sagte spröde: »Nein. Bitte, tu das nicht wieder. Ich möchte das nicht.«
Phillip lächelte. »Ist gut. Aber du bist sehr schön, Claire.«
Sie stellte sich vor den Spiegel, und zum ersten Mal in ihrem Leben fand sie sich schön. Sie brach in Tränen aus, weil sie wußte, daß das Schicksal ihr den Mann vorenthalten würde, den sie hätte lieben können. In der Nacht, als er auf dem Hof herumgelaufen war wie ein Tiger im Käfig, und jetzt im Sonnenlicht am blankgescheuerten Tisch begriff sie, daß ihre Vorsichtsmaßnahmen nichts genützt hatten. »Du siehst müde aus«, sagte sie gleichmütig.
»Ich habe kaum geschlafen heute nacht.«
»Ich weiß. Ich hörte dich herumlaufen.«
»Oh - tut mir leid, wenn ich dich gestört habe.«
»Nein, es war Vollmond, da kann ich sowieso nicht gut schlafen. « Claire trat an den Herd. »Ich mach dir ein paar Eier. Wann fährst du nach Deutschland
Weitere Kostenlose Bücher