Sturmzeit
Tom Wolff und die Firmenanteile hatte sich Sara von Felicia zurückgezogen. Sie lebte noch immer in der Prinzregentenstraße, aber sie ging eigene Wege. Durch Martin und durch ihre Arbeit hatte sie sich längst weit entfernt von ihrer früheren Lebensweise und der ihrer Freunde. Not und Elend der Zeit wurden ungefiltert an sie herangetragen. Als eines Tages eines der Kinder, ein kleines, mageres Mädchen, das immer ohne Schuhe herumlief und blaue Lippen hatte vom ewigen Husten, nicht im Kindergarten erschien, begann sie sich Sorgen zu machen. Ihre Kolleginnen lachten, aber Sara war von einer inneren Unruhe gepackt, die sie nicht mehr losließ. In der Mittagspause beschloß sie, zu Elke nach Hause zu gehen. Sie rief Martin an, um ihn zu fragen, ob er sie begleiten könnte, und er holte sie eine Viertelstunde später mit dem Auto seines Vaters am Kindergarten ab.
»Fahr, so schnell du kannst«, drängte Sara, »irgend etwas ist nicht in Ordnung! Ich spüre es!«
Martin spottete zunächst, weil er an Vorahnungen nicht glaubte, aber als er sah, wie blaß Sara geworden war, schwieg er und fuhr zügig und konzentriert in die von Sara bestimmte Richtung. Sie kamen in den Westen der Stadt, wo kaum mehr Bäume standen und keine Blumen blühten, sondern nur lange Reihen grauer Mietskasernen in den Himmel ragten. Ein paar verwahrloste Kinder spielten in den Straßen oder tauchten beim Näherkommen des Autos neugierig aus den Hinterhöfen auf.
»Hier«, sagte Sara, als sie an den nächsten dieser uniformen Wohnblocks gelangten, »hier muß es sein!«
Martin hielt. Nebeneinander betraten sie das Haus. Im engen, dunklen Treppenflur hingen noch ein paar Fetzen einer fleckigen Tapete von den Wänden, der Rest war bröseliger, roher Putz. Es waberte vom Geruch tagealten Essens. Ein einsamer Ball kullerte über den in kleinen braunen und weißenKaros gemusterten Fußboden. Irgendwo weinte ein Kind, und ein Grammophon leierte ein Volkslied herunter. Sara hatte Elkes Karteikarte aus dem Kindergarten in der Hand. Sie seufzte.
»Siebter Stock!«
Sie fanden die Wohnungstür verschlossen vor. Nichts rührte sich dahinter. Während sie noch unschlüssig im Gang herumstanden, tauchte eine Nachbarin auf, die ihnen mitteilte, von der Familie sei seit dem Morgen kein Schatten zu sehen und kein Laut zu hören. »Riecht's hier nicht irgendwie nach Gas?«setzte sie unbeteiligt hinzu.
Von Panik ergriffen hämmerte Sara gegen die Tür. Schon hatten sich einige Hausbewohner um sie versammelt, von denen ein stämmiger, rotgesichtiger Mann das einzig Vernünftige tat: Er holte ein Brecheisen und brach die Tür auf. Nun strömte ihnen eine Woge von Gas entgegen. Die Hand vor den Mund gepreßt, drängte sich Martin ins Zimmer, riß das Fenster auf und drehte den Hahn am Gasherd zu. Sara zerrte zwei Kinder aus einem der Betten und schleppte sie zur Tür. Eines davon war Elke, und Sara konnte so rasch kaum feststellen, ob sie überhaupt noch atmete. Gleichzeitig ertönte einmarkerschütternder Schrei. Eine der Gafferinnen, eine ältliche Frau mit schlaffem Gesicht und rosafarbenen Lockenwicklern im Haar, kippte um und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Während die anderen neben ihr niederknieten und sie aufzuwecken versuchten, sagte ein Mann: »Da hängt einer!«
Das Geschrei, das daraufhin ausbrach, war panisch. Nun konnte jeder sehen, daß in einer verborgenen Ecke hinter einem Schrank ein Seil von der Decke fiel, an dessen unterem Ende, nur knapp über dem Fußboden, ein Mann hing. Ein umgestoßener Stuhl lag zu seinen Füßen.
»Raus, schnell!« drängte Martin, der die junge Frau aufgehoben hatte, die vor dem Gasherd lag, »nicht auch noch umfallen, Sara!«Sara riß sich zusammen. Sie betteten die Kinder und die Frau auf Decken, die irgend jemand herbeigeholt hatte. Einen jungen Mann schickten sie los, einen Arzt zu holen. Martin trug unterdessen die beiden anderen Kinder aus dem Zimmer. Vorsichtig legte er sie neben ihre Geschwister. Alle vier Kinder atmeten. Sara nahm Elkes Kopf zwischen die Hände und schüttelte ihn sacht hin und her. »Elke, aufwachen! Wach doch auf, Elke, bitte!«
Elkes Lider zuckten. Sara atmete tief. »Gott sei Dank«, sagte sie leise.
»Ich möchte, daß wir heiraten, Sara«, sagte Martin, der ihr gegenüber auf dem Boden kniete. Sara blickte ihn über das Lager hinweg fassungslos an. »Wie bitte?«
»Ich möchte dich heiraten. Könntest du dir das nicht vorstellen?«
Sara dachte an den toten Mann, der dort
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