Sturmzeit
Orchidee entgegen, und unvermittelt mußte Felicia an etwas denken, was Tom Wolff zu ihr gesagt hatte: »Ihr Mund ist eine einzige feuerrote Lüge!« Es war nicht schwer zu lügen. Die Uhr an der Wand tickte, die Bienen vor dem Fenster summten, der Fußboden roch scharf nach Bohnerwachs.
Felicia hustete. »Hast du... hast du verstanden, was ich gesagt habe, Kat?«
»Ja«, erwiderte Kat. In ihren Augen stand kein Zweifel. Nur ihre Blässe hatte sich vertieft. Sie erhob sich. »Dann habe ich niemanden mehr.«
Kats Ruhe schien Felicia bedrohlich. Sie stand ebenfalls auf.
»Kat, geh nicht fort. Schau, du mußt es doch schon gewußt haben. Seit vier Jahren ist der Krieg vorbei, und nie hat es ein Lebenszeichen gegeben. Du hast es geahnt, nicht?«
»Warum sagst du es mir gerade heute?«
»Weil du vielleicht jetzt, heute, ein neues Leben anfangen solltest.«
»Amen«, sagte Kat zynisch. Sie verließ den Raum und schmetterte die Tür hinter sich zu. Die giftige Orchidee nickte Felicia im Luftzug zu.
Niemand erfuhr je, welchen Weg Kat in den folgenden drei Tagen ging. Sie schloß sich in ihr Zimmer ein, und den besorgten Familienmitgliedern, die an ihrer Tür vorüber defilierten, gab sie keine Antwort. Die anderen dachten, es sei der Tod ihres Vaters, der Kat so verstörte. Nur Felicia kannte die Wahrheit, und es kostete sie große Mühe, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. Noch konnte alles schiefgehen. Sie hörte Kat in ihrem Zimmer hin und her gehen und verkrampfte nervös ihre Hände. Sie wußte, Kat war leicht zu manipulieren, wenn ihr Gefühlsleben durcheinandergeriet, und es könnte gelingen, sie jetzt in Wolffs Arme zu treiben. Und genaugenommen hatte sie nicht einmal gelogen, davon war sie überzeugt.
Phillip mußte tot sein, es war eine Tat der Barmherzigkeit, Kat von einer Sehnsucht zu befreien, die sich nie erfüllen würde. Sollte sie alt, grau und einsam werden über ihrem Warten auf Phillip?
Als Kat nach drei Tagen ihr Zimmer verließ, zeigte ihr Gesicht keine Regung, aber aus ihren Augen war die Zärtlichkeit verschwunden, mit der sie die Welt betrachtete aus ihrem Lächeln das Vertrauen, das sie dem Schicksal trotz allem entgegengebracht hatte. Irgendwann in den vergangenen Tagen hatte sie wohl beschlossen, erwachsen zu werden und aus dem, was ihr geblieben war, das beste zu machen. Felicia zitterte, weil sie fürchtete, Kat werde nun allzu genaue Nachforschungen anstellen, aber sie war doch noch naiv genug, eine solche Skrupellosigkeit nicht in Erwägung zu ziehen. Felicias Aussage zweifelte sie keinen Moment lang an.
Als sie verkündete, sie habe Wolffs Antrag angenommen und werde ihn so bald wie möglich heiraten, sah sie keineswegs glücklich aus, aber über ihren Zügen lag eine Ruhe, wie sie lange niemand mehr dort gesehen hatte. Sara erkundigte sich diskret bei Felicia, was diesen Sinneswandel bewirkt haben könnte, und erfuhr die ganze Wahrheit. Sie verbarg ihr Entsetzen, versprach, nichts zu verraten, und ging unmerklich auf Distanz.München hatte wieder einmal einen Skandal. Keine sechs Wochen nach dem Tod des Vaters feierte Severins Tochter Hochzeit mit Tom Wolff. Zwei Dinge entrüsteten die Leute: die unschicklich kurze Trauerzeit und die Wahl des Bräutigams. Die Lombards hatten es wieder einmal geschafft, in aller Munde zu sein, und Felicia konnte nur Gott danken, daß wenigstens niemand etwas von ihren allergeheimsten Transaktionen wußte.
Tom Wolff sah sich am Ziel seiner Wünsche. Er war jetzt achtundvierzig Jahre alt, und er hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte.
Er besaß Geld, Einfluß und eine Frau aus vornehmer Familie. Letzteres war die größte Hürde gewesen und hatte ihm am meisten Geduld abverlangt, doch das hatte er von Anfang an einkalkuliert. Geld und Einfluß konnte erlangen, wer clever war, eine Spürnase für gute Geschäfte hatte und vor unfeinen Praktiken hin und wieder nicht zurückschreckte. Mit den Frauen aus den feinen, alten Familien war das schwieriger. Lieber heirateten sie einen degenerierten Adligen, dem die Vornehmheit den Verstand aus dem Kopf gezogen hatte, als daß sie sich an einen erfolgreichen Aufsteiger aus unteren Klassen verschwendet hätten. Aber Wolff hatte immer gewußt, daß die Zeit auf Seiten derer ist, die warten können. Jede Epoche erlebte ihren Umsturz. Der Krieg kam, das Kaiserreich ging dahin, und die Elite von einst kam hinter den Mauern ihrer Paläste hervor, weil sie begriff, daß sie in ihren erhabenen
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