Sturmzeit
nie wieder nach München zurückzukehren. »Ich werde hier zur Schule gehen«, erklärte sie, »ich kann Martin und Sara nicht dauernd vor derNase haben. Die beiden werden heiraten.«
Das verschlug Felicia die Sprache. Aber Nicola wollte nicht weiter darüber reden. Sie war überzeugt, durch eine Tragödie gegangen zu sein und nun das Recht zu haben, ihr Leben zu genießen. Sie fand bald Kontakt zu weißrussischen Exilanten, die die Berliner Cafés bevölkerten und in ernsten, langen Gesprächen eine vergangene Epoche heraufbeschworen. Nicola mit ihren langen Beinen und phantastischen Augen war bald überall der Mittelpunkt, und Felicia gab es auf, ihre schnell wechselnden Affären zu zählen. Das Gespräch der jungen Leute drehte sich meistens um eine Anastasia Romanow, eine junge Frau, die man im Februar aus dem Landwehrkanal gefischt hatte und die behauptete, Tochter des letzten Zaren und der Mordnacht von Jekaterinburg entgangen zu sein. Die Wogen des öffentlichen Interesses gingen hoch, und Nicola war bereit, das Drama um Martin zu vergessen und das Leben sehr spannend zu finden. Felicia traf auch Jo, der angestrengt und blaß aussah und sich auf sein Examen vorbereitete. Er hatte keine Zeit mehr, mit ihr wie früher durch die Kneipen zu ziehen; statt dessen ging sie mit Linda und Paul im Tiergarten spazieren und fragte sich, worüber sie früher mit der Freundin gesprochen hatte. Sie versuchte, ein wenig von dem zu erzählen, was sie bewegte, von der Münchener Fabrik, von der Modebranche, von ihren Reisen und Terminen, von den Schwierigkeiten mit Benjamin, aber Linda begriff nichts, sah sie nur mit einer Mischung aus Bewunderung und Befremden an. Die einzig treffende Bemerkung, die sie machte, war: »Du wirkst so entsetzlich rastlos und unruhig, Felicia!«
Ja, Felicia wußte es, sie war rastlos und unruhig. Sie konnte keine Minute still verbringen. Sie wußte um ihre Anfälligkeit für Erinnerungen und wollte sich dem um keinen Preis aussetzen. Nicht an Vater denken, an Christian, Leo und Belle, wie Elsa es ständig tat. Nicht an die geruhsamen Jahre vor dem Krieg, an Alex und Maksim. Jeden Tag arrangierte sie einen Wirbel von Ereignissen. Sie reiste nach Hamburg, nach Frankfurt, nach Düsseldorf. Sie traf neue Menschen, schloß neue Verträge, trieb sich auf Champagnerempfängen und Cocktailpartys herum. Sie vermied es, der Republik ins graue, inflationsgeplagte Gesicht zu sehen, ignorierte die Schattenseiten und genoß den aufgesetzten Glitzer. Die Ereignisse überschlugen sich, unberührt glitt sie durch sie hindurch. Im August trat die Regierung Cuno zurück, unter dem neuen Kanzler Stresemann formierte sich das erste Kabinett einer großen Koalition. Im September verhängte die Münchener Regierung den Ausnahmezustand über Bayern, als Reaktion auf die Beendigung des passiven Widerstandes im Ruhrgebiet. Nationalsozialistischer Aufruhr an allen Ecken und Enden, daraufhin der Ausnahmezustand über dem ganzen Reichsgebiet. Krisenstimmung machte sich breit. Der Reichstag nahm ein Ermächtigungsgesetz an, wonach die Regierung die Möglichkeit hatte, wirtschaftliche und politische Verordnungen zu erlassen, die sogar mit den Grundrechten kollidieren konnten. In Sachsen, Thüringen und Bayern kam es zu Zusammenstößen zwischen politischen Gruppierungen. Der bayerische Generalstaatskommissar von Kahr weigerte sich, die NSDAPZeitung Völkischer Beobachter zu verbieten, obwohl die Oberste Heeresleitung das Blatt scharf angegriffen hatte. Besorgte Stimmen sprachen von einer Spaltung des Reiches, andere - hellsichtigere Naturen - prophezeiten eine Rechtsdiktatur. In Hamburg geriet Felicia im Oktober in blutige Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Polizei und verbrachte einen Tag im Krankenhaus, weil ein Stein sie an der Schläfe getroffen und ihr eine tiefe Wunde zugefügt hatte. Anfang November traten die sozialdemokratischen Minister aus der Koalitionsregierung zurück, als Antwort auf die Vorkommnisse in Bayern. Gerüchten zufolge erwog von Kahr, gegen Berlin zu marschieren und in einem Putsch die Regierung an die deutsche Rechte zu geben. Die Stimmung im Reich war aufgeheizt, der Rücktritt der Sozialdemokraten schien vielen der Auftakt zu Schlimmerem. Felicia hatte auch diesmal kaum Augen für die politischen Geschehnisse im Land. Im November geschahen zwei Dinge, die ihre Aufmerksamkeit weit mehr beanspruchten: Onkel Victor stimmte dem Verkauf von Lulinn zu. Und Sara und Martin schickten ein Telegramm,
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