Sturmzeit
in dem sie ihre Heirat ankündigten.
»Es wird nicht gelingen«, sagte Martin beschwörend, »die Deutschen sind nicht so dumm, das zuzulassen!« Er stand wie gebannt in einem Hauseingang auf der Leopoldstraße und sah den Demonstranten zu, die fackelbeleuchtet, Parolen schreiend durch das nächtliche München zogen. Es war die Nacht des achten auf den neunten November 1923, und vor einer Stunde hatte der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, die Reichsregierung und die bayerische Regierung für abgesetzt und sich selber zum Reichskanzler erklärt. Es war bereits durchgesickert, daß General Ludendorff auf seiten der Putschisten stand, so daß Hitler zumindest auf die Chance rechnen konnte, die Reichswehr zu seiner Unterstützung zu haben. Ganz München wachte in dieser Nacht, die Straßenränder waren trotz der feuchten, nebligen Kälte von Menschen gesäumt. Hier und da wurden Hochrufe laut. »Das sind die Leute, die wir brauchen!
Die werden endlich die verdammten Franzosen von deutschem Boden verjagen!«
»Die werden das Schanddiktat von Versailles aufrieben!«
»Auf jeden Fall ist Hitler unser neuer Mann.«
»Ich glaub' es nicht«, sagte Martin, »ich glaube es einfach nicht!«
Sara, die sich dicht an ihn preßte und nicht wußte, ob ihr Zittern von der Kälte oder vom Gefühl des Grauens herrührte, bat flüsternd: »Laß uns heimgehen. Ich möchte das nicht sehen.«
Eine Frau, die dicht neben ihnen stand und Saras Worte gehört hatte, drehte sich um und starrte die beiden an. Ihr Gesicht bekam einen verachtungsvollen Ausdruck. »Juden!« sagte sie. »Ihr seid schuld an der Inflation. Mit euch müßte man auch mal aufräumen!«
Sara hatte Tränen in den Augen. »Oh, bitte, laß uns gehen!«
»Wegen der alte Schlampe? Ich möchte zusehen, wo das hinführt. Komm mit!« Martin war wie im Fieber. Hand in Hand folgten sie dem Demonstrationszug. Ein Mann in ihrer Nähe murmelte: »Saubande! Wenn die jetzt das Militär für sich gewinnen, haben sie's geschafft!«
»Von Kahr macht nicht mit«, prophezeite Martin, »er ist rechts, aber nicht verrückt.«
»Aber Ludendorff unterstützt Hitler.«
»Ludendorff hat nicht mehr viel Einfluß.«
Aus den vorderen Reihen der Demonstranten erklang brüllend die Wacht am Rhein. Und ein anderes Lied, das Sara noch nie gehört hatte: »... heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!«
Die Fackeln warfen einen rotgoldenen Schein auf die dunklen Häuserwände und die regennassen Straßen. Die Stiefel der Putschisten knallten aufs Pflaster. Als die Feldherrenhalle in Sicht kam, geriet der Zug ins Stocken. Zwischen den Säulen brannten Lichter; deutlich konnte man die Polizisten erkennen, die ihre Maschinengewehre drohend gegen die Demonstranten richteten. Für einen Moment verebbte der selbstbewußte Gesang, dann erhob er sich um so dröhnender, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Im nächsten Moment prasselten die ersten Salven
Gewehrfeuer. Schreie hallten durch die Nacht, in die Menge kam Bewegung. In Sekundenschnelle hatten sich die Zuschauer in Hauseingänge und Seitenstraßen geflüchtet. Die Demonstranten traten den Rückzug an; auf einige, die trotz allem vorwärtsstürmten, wurde sofort geschossen.Martin umklammerte Saras Hand, als wolle er sie zerbrechen.
»Sie schießen! Sie schießen tatsächlich!« Nun konnten sie auch sehen, daß die Polizisten ihre Plätze verließen und Demonstranten festnahmen, sie in die Autos stießen und mit ihnen davonfuhren. Von ganz vorn kamen Rufe. »Sie haben Adolf Hitler verhaftet! Hitler ist festgenommen!«
Das genügte, die Menge endgültig auseinanderzutreiben. Vereinzelt fielen noch Schüsse. Die Szenerie war gespenstisch: Nebel, Dunkelheit, Fackeln, Polizisten und auseinander strömende Menschenmassen, dazwischen Autohupen und Sirenen.
»Komm«, sagte Martin, »wir gehen nach Hause.« Er war sehr gut gestimmt auf dem Rückweg. Sara blieb stumm. Sein Triumphgefühl darüber, daß der Putschversuch der Nationalsozialisten zerschlagen worden war, konnte sie nicht teilen. Zeitlebens hatte sie auf die Stimme gelauscht, die manchmal in ihrem Inneren laut wurde. Es war ihre feine Intuition gewesen, die sie der kleinen Elke hatte zu Hilfe kommen lassen, noch ehe sie hatte wissen können, was geschehen war. Sie konnte nicht an gegen diese Warnungen aus ihrem Inneren, und was die NSDAP betraf, so schlug die Alarmglocke lauter denn je. Es ging ihr nicht wie Martin, der die Ziele der Partei radikal ablehnte und dabei
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