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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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drinnen im Zimmer von der Decke baumelte, und unvermittelt wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie kippte nach vorn und blieb neben den Kindern liegen.
    Am nächsten Tag erschien Martin in der Prinzregentenstraße, wo Sara mit rotumränderten Augen am Fenster ihres Zimmers saß und hinaus in den Himmel starrte. Martin kam direkt von der Polizei, wo die ganze Geschichte protokolliert worden war. Bevor sie völlig zusammenbrach, hatte die Mutter der vier Kinder den Hergang des Geschehens erzählt: Ihr Mann zeigte schon seit Jahresbeginn eine beängstigende Lebensmüdigkeit, hervorgerufen durch Sorge und Angst und den ewigen Kampf um das tägliche Brot. Mit der Inflation nahm seine Panik zu. Schon lange hungerte die Familie, keiner wußte mehr, wie es weitergehen sollte. Als er schließlich erfuhr, daß er möglicherweise noch seinen Arbeitsplatz verlieren würde, drehte der Mann durch. Mit seiner Frau verabredete er, es sei das beste, wenn die ganze Familie aus dem Leben ginge, besser auf jeden Fall, als langsam zu verhungern. Sie kauften Schlaftabletten, Frau und Kinder versetzten sich damit in einen schläfrigen Dämmerzustand, und der Mann drehte den Gashahn auf.
    »Verabredungsgemäß hätte er nun ebenfalls Tabletten schlucken müssen«, schloß Martin, »aber offenbar hatte er zu seinem eigenen Plan kein Zutrauen mehr. Er erhängte sich.«
    Sara hatte unbeweglich zugehört. »Wie verzweifelt muß er gewesen sein«, flüsterte sie, »ich glaube, wir können das gar nicht nachempfinden. Wenn nur noch dieser Weg bleibt, wie pechschwarz muß es dann in einem Menschen aussehen.«
    »Er arbeitete übrigens für Wolff«, fügte Martin hinzu, »in der Fabrik.«
    »Nein!«
    »Doch. Wolff hatte ihm mit der Kündigung gedroht, weil er sein Pensum nicht mehr schaffte.«
    »Warum müssen solche Dinge passieren? Warum nur?«
    »Solange die einen Geld haben und die anderen nicht, wird es immer so sein. Willst du mich nun heiraten, Sara?«
    Sara blickte ihn geistesabwesend an. Von draußen wurde an die Tür geklopft. Es war Felicia, die sich nach Saras Befinden erkundigen wollte, aber sie platzte in die düstere Stimmung hinein wie ein Wesen von einem anderen Stern. Sie kam gerade von einer Besprechung, hatte blitzende Augen und gerötete Wangen, einen wehenden Chiffonschal um den Hals, dazu ein Kleid aus elfenbeinfarbener Seide, trug weiße Handschuhe und eine taillenlange Perlenkette. Sie strahlte so viel Frische und Lebenskraft aus, daß sie damit ungewollt provozierte, in diesem Augenblick war sie die Verkörperung jenes Systems, das Martin in seinen Träumen stürzen sah.
    »Der Mann, der sich gestern umgebracht hat, arbeitete für euch«, sagte Sara unvermittelt. »Wolff wollte ihn entlassen.«
    Felicia spürte den Vorwurf. »Davon wußte ich nichts«, sagte sie zögernd. Martin und Sara schwiegen. Felicia kramte eine Zigarette hervor. »Wie viele Kinder hatte er denn?«
    »Vier. Und die Frau hat auch keine Arbeit.«
    »Man sagt, Wolff gehe sehr skrupellos mit seinen Arbeitern um«, warf Martin ein.
    »Ich bin für diese Dinge nicht zuständig«, erwiderte Felicia. Die anderen sagten nichts. Verärgert drückte sie ihre kaum angerauchte Zigarette aus. »Die Zeiten sind schlecht, und es ist weiß Gott nicht so, daß es den Leuten anderswo besser geht als bei uns, aber ich will nicht schuld sein, wenn die Frau noch einmal den Gashahn aufdreht. Ich werde mit Wolff sprechen, daß er ihr Arbeit gibt, und ich werde sie finanziell unterstützen. Ihr könnt ihr das sagen.« Sie öffnete die Tür. »Übrigens«, fügte sie hinzu, »ich bin in der nächsten Zeit nicht hier. Ich fahre nach Insterburg. Ich werde versuchen, Lulinn zu kaufen.«

    Es begann eine rastlose, hektische Zeit für Felicia. Sie verhandelte auf Lulinn mit Onkel Victor, der sich aufgeblasener gab denn je und unfähig war, eine Entscheidung zu treffen. Sie besuchte auf Skollna ihre Kinder und erschrak vor Benjamins Melancholie. In Berlin sah sie ihre Mutter wieder, die viele Stunden des Tages meditierend vor einer Art Altar verbrachte, den sie im Wohnzimmer errichtet hatte: Er bestand aus Kerzen, Blumen und Schleifen, die sie kunstvoll um die gerahmten Fotografien ihres Mannes, von Christian, Onkel Leo und Tante Belle drapiert hatte. Sie betete viel, und sie konnte den Namen ihres jüngsten Sohnes noch immer nicht aussprechen, ohne daß ihr die Tränen kamen.
    Überraschend tauchte auch Nicola in der Schloßstraße auf, mit Sack und Pack und dem festen Entschluß,

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