Sturmzeit
der Prinzregentenstraße?«
»Ja. Allein in dem großen Haus. Sie verliert wahrscheinlichauch noch ihre ostpreußischen Güter, aber«, über sein Gesicht flog ein Ausdruck von Anerkennung, »aber, das muß man dieser Frau lassen, sie hat Format. Vor mir hat sie weder eine Träne vergossen noch lange lamentiert. ›Wir müssen jetzt jeder auf eigene Faust versuchen durchzukommen‹ hat sie gesagt.«
»Wie sieht sie aus?«
»Elend. Ihre Lage ist ziemlich verzweifelt. Sie ist Witwe, steht mit zwei Kindern da... Allerdings, wessen Lage ist nicht verzweifelt! Meine jedenfalls... ach, Scheiße!« Er vergrub das Gesicht in den Händen. Kat setzte sich vorsichtig neben ihn auf die Sessellehne. Sie riecht nicht nach Alkohol, registrierte er, und zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß sie seit jenen dramatischen Tagen im Oktober nicht mehr getrunken hatte. Langsam hob er den Kopf.
»Oh, Kat, Kat, was soll ich nur tun? Es ist alles zu Ende! Es ist alles aus!« Er griff hilfesuchend nach ihren Händen, und plötzlich zog sie ihn an sich, er legte seinen Kopf an ihre Schulter, und alles, was ihn bedrängte, was so schwer gewogen hatte sein Leben lang, was verschüttet lag unter dem Tom Wolff den die Welt kannte, brach aus ihm heraus: die trostlose Kindheit, die bittere Armut, wie er betteln gegangen war um Geld für ein Paar Schuhe zusammenzubekommen, die Demütigungen durch die Reichen, wie er Tag für Tag die Zähne zusammengebissen hatte, um sein Leben zu ertragen, der Spott der Klassenkameraden, seine schwindsüchtige Mutter, sein Vater, den das elende Leben zu einem hilflosen seelischen Krüppel hatte werden lassen, seine Flucht bei Nacht und Nebel, der Hohn der etablierten Münchener Bürger, seine ohnmächtige Wut...
»Ja, ich verstehe das. Ich verstehe das ja.«
Immer und immer hatte er gekämpft, sie alle zu besiegen, die großschnäuzigen Pseudoaristokraten mit ihren meterlangen Stammbäumen und ihren geschliffenen Manieren, ihremscheißvornehmen Auftreten und ihren großkotzigen Worten...
»Ich weiß, wie sie waren, ich kenne sie.«
Er hob den Kopf, starrte sie an. »Du bist wie sie. Du hast mich verspottet wie sie alle. Ich bin der letzte Dreck für Kassandra Lombard, das bin ich immer gewesen und werde es immer sein, gib es doch zu!«
»Ich habe dich nicht verspottet. Ich habe dich nur nie geliebt.«
»Weiß Gott, nein, das hast du nie. Und ich hatte noch gedacht, ich könnte dich dazu bringen, mich zu lieben. Ich hab' dich mit Schmuck behängt, dir Reisen und Autos geschenkt, das beste Leben solltest du haben, Geld, soviel du nur wolltest... aber du hast mich aus abwesenden Augen angesehen, und all die Jahre hindurch bist du in Gedanken bei deinem russischen Baron gewesen, und bei diesem einstigen Offizier, der uns in diese phantastische Lage hineinmanövriert hat. Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals!« Er lachte schrill. »Eine Ironie des Schicksals, daß Felicia Lavergne und Tom Wolff zu guter Letzt von diesem Mann ruiniert werden! Und ich hatte schon gehofft, für meine Sünden erst im Jenseits bezahlen zu müssen... na ja, egal. Wie auch immer, Madame, unsere guten Zeiten sind vorbei. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann wir aus diesem Haus hinaus müssen. Wahrscheinlich werde ich keine Arbeit finden, und keine Wohnung haben, also werde ich mich womöglich noch auf mein Erbe besinnen müssen.« Er lachte wieder, das schrille, verzweifelte Lachen, das Kat noch nie vorher an ihm gehört hatte.
»Es muß mit dem Teufel zugehen, findest du nicht auch? Zu guter Letzt kehrt Tom Wolff dorthin zurück, wo er hergekommen ist. Auf diesen gottverlassenen Hof irgendwo an der tschechischen Grenze, wo die Menschen leben wie vor hundert Jahren. Das ist die Moral meiner Geschichte: Versuche nie, den dir angestammten Platz zu verlassen. Du fällst auf die Nase, immer wieder!«
»Wir werden durchkommen«, sagte Kat gelassen.
»Ja, du wirst durchkommen. Genauso wie Felicia. Und wenn man euch alles nimmt, was ihr nur habt auf dieser Welt, es geht euch nie so dreckig wie mir. Warum? Oh, Mesdames verlieren nie das aristokratische Bewußtsein. Ihr kommt nicht aus dem Dreck, daher könnt ihr auch nie dort landen. Du und Felicia, ihr könnt in Lumpen gehen, ihr bleibt immer die höheren Töchter, die nie vergessen, was ihre Gouvernanten ihnen einmal beigebracht haben. Aber ich - komisch, ich begreif's erst jetzt -, ich könnte zum reichsten Mann der Welt werden, ich bliebe immer Tom Wolff, der aus der Gosse
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