Sturmzeit
Hilfe ihrer Mutter wären sie gar nicht durchgekommen.
»Du siehst nicht glücklich aus, Martin«, sagte Sara. Im blassen Licht der Straßenlaternen konnte sie sehen, daß ein angespannter Zug um seinen Mund lag. »Du müßtest dich doch erleichtert fühlen!«
»Nein. Ich fühle mich leer und gleichzeitig aufgewühlt, mir ist etwas entrissen, das monatelang Bestandteil meines Lebens, vielleicht meine einzige Realität war. Es ist, als bliebe mir jetzt nichts mehr.«
»Vielleicht solltest du erst mal was essen«, schlug Sara vor, die sich ihren praktischen Sinn bewahrt hatte.
Martin lachte. »Vielleicht keine schlechte Idee. Aber weißt du, abgesehen von meinem Buch, mußte ich gerade an etwas ganz anderes denken - an die Wallstreet.«
»Wallstreet? Was haben wir damit zu tun?«
»Die ganze Welt hat damit zu tun. Es werden sehr harte Zeiten auf uns zukommen. Ganze Wirtschaftszweige brechen zusammen, Tausende von Unternehmen gehen in Konkurs, es wird Arbeitslosigkeit geben, Inflation vielleicht wieder, Hunger, Wohnungsnot... all diese hübschen Tragödien, die ein Volk nach und nach zermürben. Es krank machen und anfällig...«
»Anfällig, wofür?«
»Die Nazis«, sagte Martin, und sein Gesicht war auf einmal voller Haß, »mit jedem Schlag, den die Republik erleidet, sammeln die Nazis Punkte.«
»Nicht genügend Punkte.«
»Oh doch. Sie haben eine phantastische Propaganda, und du kannst sicher sein, daß sie, was immer von nun an geschieht, für sich ausnutzen werden. Mir machen diese Leute Angst. Ich kann sie nicht als harmlose Verrückte abtun. Sie wissen zu gut, in welche Kerben sie schlagen müssen. Sie erkennen die Schwachstellen der Leute und nutzen sie für ihre Zwecke. Außerdem haben sie im Reichspräsidenten einen
Sympathisanten.«
»Hindenburg geht nicht mit den Nazis!«
»Bist du sicher? Wenn es hart auf hart kommt? Du wirst dem heiligen Sieger von Tannenberg einen gewissen Hang nach rechts nicht absprechen können.«
»Trotzdem - die Nazis kommen auf keinen grünen Zweig. Sie machen sich doch ständig lächerlich. Schau dir nur ihre Schlägertrupps an. Kannst du dir einen einzigen normalen Menschen vorstellen, der nicht den Kopf schüttelt, wenn er den Leuten von der SA oder SS begegnet?«
»Ich weiß nur«, sagte Martin düster, »daß eine raffiniert ausgeklügelte Propaganda auch vernünftigen Leuten schon die seltsamsten Ideen eingetrichtert hat.«
Sie schwiegen beide und sahen hinaus. Ein paar Straßen weiter erklangen die Tritte schwerer Stiefel. Das Kampflied der SA erscholl dumpf zwischen den Häusermauern. »Die Fahne hoch...« Sara schluckte. Martin lachte, es klang gequält.
»Nun, Sara, Prophetin, blick hinein in deine geheimnisvolle jüdische Seele und sag mir: Geh'n die da draußen zur Hölle, oder steigen sie auf wie der berühmte Komet am Himmel?«
Sara blickte ihn fest an. »Natürlich gehen sie zur Hölle«, sagte sie, »wie alles, was schlecht ist, irgendwann dorthin verschwindet.«Martin lächelte wieder, traurig und zärtlich.
»Irgendwann«, wiederholte er, »sicher, irgendwann...«
Tom Wolff kehrte am Heiligabend erst kurz vor 23 Uhr nach Hause zurück, obwohl Kat für acht Uhr Gäste zum Essen eingeladen und ihn gebeten hatte, pünktlich zu sein. Er mochte niemanden sehen und hoffte, die Besucher seien bereits gegangen. Vorsichtig betrat er das Wohnzimmer. Gott sei Dank, es war niemand mehr da. Vor dem Kamin stand der Weihnachtsbaum, eine große Tanne mit weit ausgebreiteten Ästen, verschwenderisch behängt mit Lametta, Engelshaar und großen, goldenen Kugeln. Auf der Spitze steckte ein gewaltiger fünfzackiger Stern.
Wolff betrachtete den Baum. »Albern«, brummte er, »wir gehen zwar bankrott, aber ein Baum muß her. Wie in unseren besten Zeiten.« Dann warf er sich in einen Sessel und streckte die Beine von sich. Die letzten Wochen waren schwer für ihn gewesen, er hatte sehr abgenommen, sah müde und resigniert aus. Nicht einmal mehr Zigaretten rührte er an.
Die Tür ging auf, und Kat kam herein. Sie trug ein bodenlanges silberfarbenes Kleid, und in ihren kurzgeschnittenen schwarzen Locken steckte eine silberne Rose.
»Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr«, sagte sie, »unsere Gäste habe ich weggeschickt, weil ich dachte, du magst sie wohl nicht sehen. Wo warst du?«
»Bei Felicia. Wir sind noch einmal unsere Bücher durchgegangen, haben jeden möglichen Weg besprochen. Es hilft nichts. Wir sind am Ende.«
»Felicia ist daheim? In
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