Sturmzeit
Geschäften. Manche standen schon die ganze Nacht.
Nina, Hausmädchen bei Oberst von Bergstrom in dessen feudalem Haus am Tverskij-Boulevard, ging langsam die breite Treppe hinunter in die Eingangshalle. Jemand hämmerte gegen die Haustür, aber sie sah nicht ein, weshalb sie sich beeilen sollte. Ihre Zeit als folgsames Dienstmädchen war ohnehin bald vorbei. Jurij, ihr Freund, hatte es erst gestern wieder gesagt. »Es wird alles anders werden, Nina. Herren und Diener gibt es bald nicht mehr. Es gibt keine Klassen mehr. Alle werden gleich sein.«
»Wieso gleich? Die einen haben Geld, die anderen nicht. Wie können da alle gleich sein?«
»Nein, du verstehst nicht. Wir enteignen sie. Umverteilung des Kapitals. Der klassengebundene Besitz geht in das Volkseigentum über!«
Das Wort »Enteignung« gefiel Nina. Und das Wort»umverteilen« auch. Ob sie dann wohl Madames Perlencollier bekäme?
Zufrieden lächelnd öffnete sie die Tür. Vor ihr stand ein kleiner Junge, barfuß, mit blauen Lippen. Er reichte ihr einen Brief. »Für Madame Bergstrom«, sagte er. Nina gab ihm ein Geldstück. »Wer schickt dich?« fragte sie. Aber der Junge hatte sich schon umgedreht und war fortgelaufen. Nina betrachtete den Umschlag. Johanna Isabelle von Bergstrom, stand darauf. Der Umschlag war zerknittert und verschmutzt. Nina ging hinauf in den Salon, wo Madame frühstückte. Hier brannte ein Feuer im Kamin, es roch nach Kaffee und frisch gebackenem Brot. Belle saß in einem seidenen Morgenrock am Tisch. Die mahagonifarbenen Locken trug sie um diese Zeit noch offen.
Ihre Füße steckten in zierlichen Fellpantoffeln. Sie sah schön und gepflegt aus und sorglos. Jedenfalls für eine oberflächliche Beobachterin wie Nina. Ihr fiel der verfrorene, barfüßige Junge ein. Umverteilung des Eigentums... Sie lächelte böse.
»Ein Brief für Sie, Madame«, sagte sie, »ein Botenjunge brachte ihn.«
»Von wem?«
»Das sagte er nicht, Madame. Er war fort, ehe ich ihn fragen konnte.« Nina blieb abwartend stehen. Belle sah auf. »Es ist gut, Nina. Du kannst gehen.«
Nina knickste und verließ das Zimmer. Vor der Tür stieß sie fast mit dem Hausherrn zusammen, Oberst von Bergstrom. Er trug bereits seine Uniform und sah sehr blaß aus. So, als habe er schon seit langem nicht mehr richtig geschlafen.
»Belle, wie schön, daß du schon auf bist«, sagte er und küßte sie. Belle strich ihm sanft über die Haare. »Willst du wirklich in die Kaserne?« fragte sie. »Mutest du dir da nicht zuviel zu?
Überall spürt man die Vorboten einer Revolution. Besonders in der Armee. Ich habe Angst, daß...«
»Mir geschieht schon nichts.« Julius Bergstrom setzte sich und trank ein paar Schlucke Kaffee. Sein übermüdetes Gesicht bekam einen Anflug von Farbe. »Allerdings«, fuhr er fort, »wäre mir wohler, wenn ich dich und Nicola fort von Petersburg wüßte. Man weiß nicht, was noch geschieht. Du solltest zu meiner Familie nach Jowa gehen.«
»Ach, ich soll fort! Aber dir kann nichts geschehen. Nein, Julius, ich bleibe hier. Bei dir.« Ihre Stimme klang fest. Julius sah auf, blickte in ihre schiefergrauen Augen. Er lächelte, neigte sich vor und küßte lange und sacht ihre Lippen. »Aber wegen Nicola...« meinte er zögernd. Belle schüttelte den Kopf. »Du wirst uns beide nicht los. Was immer geschieht, wir überstehen es.« Der Feuerschein warf goldene Flecken auf Belles rotes Haar. Unter dem hauchdünnen Stoff des Morgenmantels hobund senkte sich ihre Brust in ruhigem Atem. Sie zog den Brief hervor. »Ein Bote brachte einen Brief von Felicia«, sagte sie. Julius blickte ohne großes Interesse auf. »Felicia - deine Nichte, oder? Lebt sie nicht jetzt in München?«
»Ja. Aber der Brief kommt aus der Gegend von Moskau. Sie ist dort in einem Lager!«
»Oh...«
»Während der Brussilow-Offensive wurde der Lazarettzug erbeutet, den sie als Schwester begleitete. Sie ist seit Wochen in diesem Lager. Zusammen mit ihrer Schwägerin übrigens. Sie bittet uns, ihr zu helfen.«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
»Du bist Offizier der russischen Armee. Es muß dir möglich sein!«
»Die Armee...« Julius zögerte. »Es ist alles so brüchig geworden. Wer weiß, ob nicht morgen schon meine Leute nicht einmal mehr grüßen, wenn sie mich sehen.«
»Liebling«, in Belles Augen stand jene eiserne Energie, die sie von ihrer Mutter geerbt und die sie im Laufe ihres Lebens zu ihrer stärksten Waffe gemacht hatte, »Liebling, du mußt alles
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