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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Link Charlotte
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Weg versuchen, eine vorübergehende Frontbeurlaubung zu erwirken?«
    »Die Symptome reichen nicht. Und wenn sie reichen, wird es zu spät sein.«
    Alex ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, streckte die Beine von sich. »Mein Gott«, murmelte er.
    Leo grinste. »Lassen Sie mich gehen, Herr Major?«
    »Wenn ich könnte, Leo, ich würde dich festbinden.«
    »Ich werde auf den Einbruch der Dunkelheit warten.«
    »Ich muß ins Lazarett zurück«, sagte Sara rasch. Sie wollte Leo die Hand reichen, aber er zog sie an sich und küßte ihren Mund. Wie unbeteiligt sah Alex zu, registrierte aber den verzweifelten Abschied dieser beiden Menschen, all das Unausgesprochene, das zwischen ihnen lag.
    Scheiße, dachte er müde. Er stand auf, öffnete die Tür.
    »Kommen Sie, Sara. Wir richten hier nichts mehr aus.«
    Alles in ihm war wie erstorben und kalt. Die Kirche war leer. Die alte Frau war verschwunden. Über die Trümmer des Ganges wehte kühlere Abendluft herein, es roch würzig nach Moos und Rinde, und in besseren Tagen hätten jetzt die Glocken geläutet und die Menschen von Höfen und Feldern in die Wohnstuben gerufen. Im Abendwind lag die Erinnerung an den Frieden, aber sie stammte aus einer anderen Zeit, einem anderen Land. Saras Schuhe knirschten leise. »Ich finde es großartig, was Sie getan haben«, flüsterte sie.
    Alex, versunken in bedrückende Gedanken, sah sie zerstreut an. »Was habe ich denn getan?«
    »Sie haben ihn gehen lassen.«
    Alex lachte. Es klang gequält. »O Sara, Sara, Sie liebes Kind!« Er blieb stehen, betrachtete eine leuchtendrote Rose, die vor dem einstigen Kirchenportal blühte; im Schein der untergehenden Sonne war sie wie in Blut getaucht. »Was habe ich schon getan! Ich lasse ihn in sein Verderben laufen. In dem Moment, als wir die Sakristei verließen und ihm erlaubten,seinem verrückten Plan nachzugehen, haben wir sein Todesurteil unterschrieben.«

    Mit rasender Geschwindigkeit breitete sich der Typhus aus, und da als erster der einzige Arzt im Lager starb und keine Medikamente zu bekommen waren, geschah nichts, um der Krankheit Einhalt zu gebieten. Die Schwestern taten, was sie konnten, aber die Mittel, die ihnen zur Verfügung standen, waren so erbärmlich, daß sie sich machtlos fühlten. Sie kämpften darum, daß den Kranken eine Schonkost bereitet wurde, aber sie scheiterten an den nicht vorhandenen Nahrungsmitteln. Bei den Männern lag die Sterblichkeitsrate höher als bei den Frauen, da viele Männer durch den schon zwei Jahre dauernden Krieg oder durch eine Verletzung so geschwächt waren, daß die Krankheit bei ihnen leichtes Spiel hatte. Morgens trug man die Toten hinaus, und abends konnte man schon sehen, wen es als nächstes erwischen würde. Graziella traf es in den allerersten, noch dunklen und kalten Stunden eines Oktobermorgens. Ihre Krankheit hatte den Höhepunkt bereits überschritten, und die gefürchtete Genesungsphase hatte begonnen. Wie man später anhand ihres beschmutzten Bettes rekonstruierte, war sie plötzlich von heftigen Blutungen überrascht worden, hatte sich auf Händen und Füßen durch die Baracke und hinaus in den Hof geschleppt und offenbar versucht, die Toiletten zu erreichen. Der strömende Regen und die Dunkelheit hatten sie die Richtung verlieren lassen. Sie wurde dicht am Zaun gefunden, in einer Schlammpfütze liegend, vom Regen durchweicht. Ihre Beine hatte sie von sich gestreckt, ihre roten, fettigen Haare hatten sich malerisch um sie verteilt.
    Felicia und Lola schleppten sie zu dem Schubkarren, mit dem jener Aufseher, der Graziellas letzter Liebhaber gewesen war, immer die Toten aufs Feld fuhr, um sie dort zu begraben. Als er erkannte, wer die Tote war, spuckte er auf ihren Körper.
    »Hure!« sagte er verächtlich.
    Mit Graziellas Tod erwachte die Panik in Felicia. Der Herbst trug seinen Teil dazu bei, die kürzer werdenden kalten Tage, die langen, dunklen Nächte, der Nebel, der unbekannte, geheimnisvolle Schrecken zu bergen schien. Bisher hatte sie nur gedacht: Ich muß sehen, wie ich jeden einzelnen Tag überstehe. An später darf ich nicht denken. Es ist wichtig, daß ich heute, an diesem Abend noch lebe und gesund bin!
    Doch jetzt riß die Angst sie hin. Jede Sekunde, die verging, konnte sie dem Sterben näher bringen. Das Bild der toten Graziella, wie sie im Morgengrauen vor dem Stacheldrahtzaun gelegen hatte, verfolgte sie in ihren Träumen. Immer wieder fuhr sie nachts zitternd und herzklopfend in die Höhe, und dann gab es nur

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