Sturmzeit
einer halben Stunde. Schien auf dem Weg zur Kirche zu sein.«
»Danke, Leutnant.« Nachdenklich blickte Alex zur Kirche hinüber, vielmehr zu der Ruine, die davon übrig geblieben war. Das Kirchenschiff lag in Trümmern, aber Altar und Sakristei besaßen noch Wände und ein Dach. Alex zögerte. Er sollte Leo in Ruhe lassen. Wer in die Kirche ging, wollte allein sein. Er hatte nicht das Recht, ihm nachzulaufen. Doch da war wieder diese merkwürdige Unruhe. Sich selber einen Narren nennend, überquerte er die stille Dorfstraße und betrat die Kirche. Jemand hatte den Altar mit frischen Blumen geschmückt, vermutlich jemand aus dem Dorf. Alex gewahrte eine alte, schwarzgekleidete Frau, eine Französin mit dunklen Augen und scharf gebogener Nase, die in der vordersten Bank kniete und sich gerade bekreuzigte. Sie warf dem deutschen Offizier einen langen durchdringenden Blick zu, und Alex konnte die Verachtung spüren, die ihm von der alten Frau entgegenschlug. Eine Verachtung, in der Anklage mitschwang: Du hast unsere Kirche zerstört. Du hältst unser Dorf besetzt. Du schießt auf unsere Männer.
Auf einmal fragte er sich, ob nach einem solchen Krieg jemals Vergebung unter den Menschen möglich sein würde.
Er öffnete die Tür zur Sakristei, eine alte, knarrende Holztür. Der Geruch sonnenwarmer Dielenbretter herrschte hier, durch ein kleines Fenster fiel rotes Abendlicht. Staub lag auf den Regalen, auf einem Stapel Gesangbücher, auf einer abgeblätterten Bibel. Später wußte Alex nicht, weshalb er Leo hier gesucht hatte; er vermutete, er hatte den Raum nur betreten, um dem Blick der alten Frau zu entfliehen.
Plötzlich stand er Sara gegenüber.
Da sie ein dreiviertel Jahr in seinem Haus gewohnt hatte, erkannten sie einander sofort. Sara starrte ihn an, ihre Augen waren weit aufgerissen, das schmale Gesicht unter der Schwesternhaube wurde bleich, während sich auf den Wangen hektische rote Flecken bildeten. Es schien, als wollte sie schreien, sie brachte aber keinen Ton hervor.
Dann sah er Leopold, und er trug Zivilkleidung.
Die drei Menschen in dem kleinen Raum blickten einer zum anderen, und sekundenlang war nichts zu hören als das monotone Surren einer Fliege. Alex endlich unterbrach das Schweigen. Er hatte nicht sofort begriffen, was er sah, doch nun verstand er, verstand auch den Ausdruck des Schreckens auf Saras Gesicht.
Scharf sagte er: »Zieh sofort die Uniform wieder an, Leo!«
»Herr Major...«
»Zum Teufel mit dem Major! Unter Freunden, Leo: Zieh die Uniform an!«
»Nein.«
»Zieh sie an, und ich vergesse, was ich gesehen habe.«
»Ich zieh sie nicht an, Herr Major. Niemals wieder. Sie müssen mich wohl erschießen. Haben Sie keine Skrupel, nur weil wir hier in einer Kirche sind. Es ist im Grunde nichts anderes als draußen im Schützengraben. Dem lieben Gott tut's hier wie dort weh!«
»Quatsch doch nicht! Ich will dich nicht erschießen, ich will, daß du zur Vernunft kommst!«
»Hat das da draußen irgend etwas mit Vernunft zu tun?«fragte Leo.
Alex trat einen Schritt vor und packte seinen Arm. »Leo, mit mir mußt du nicht über den Sinn und Unsinn eines Krieges reden, weiß Gott nicht! Aber glaub mir, daß es Wahnsinn ist, was du vorhast. Sie werden dich schnappen und zurückbringen, und auf Desertion steht der Tod!«
»Auf das Leben steht der Tod. Wozu also die Aufregung?«
»Laß die Haarspalterei. Du bist zu jung und zu schade dafür, um irgendwo im Morgengrauen an die Wand gestellt zu werden. Wenn sie dich erwischen, und sie werden dich erwischen, dann kann ich nichts mehr für dich tun! Verstehst du das? Ich kann nichts für dich tun!«
»Ich habe mir das alles überlegt. Ich werde das Risiko eingehen. Aber falls Sie es vor Ihrem Gewissen nicht verantworten können, mich gehen zu lassen, dann kann ich das auch verstehen.«
»Ich habe kein Gewissen. Und ich würde am liebsten zu allen meinen Männern sagen: Geht nach Hause, lauft...« Er brach ab, wandte sich Sara zu. »Sara, Sie haben ihm die Kleider beschafft, nicht? Vielleicht hört er auf Sie mehr als auf mich. Sagen Sie ihm, daß es mörderisch ist, was er vorhat!«
»Ich habe es ihm gesagt.« Sara wurde abwechselnd rot und blaß. Alex hatte sie immer eingeschüchtert, und es entsetzte sie, ausgerechnet ihm entgegentreten zu müssen. Aber ihr Blick blieb klar. »Ich habe es ihm gesagt, doch er ist nicht umzustimmen. Er muß fort. Er hält nicht mehr durch. Ich kann ihn verstehen.«
»Könnte man nicht auf medizinischem
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