Sturz der Tage in die Nacht
dem sie folgte. Meine Hände, mein Körper schienen ihren Bewegungen nachzugeben, ich folgte ihr, bis sie weinte. Sie wollte nicht, dass ich aufhörte. Sie trieb mich in einen Taumel, in einen Rausch hinein, der dem ähnelte, den ich später am Rand der Felskante noch einmal erleben würde, als ich da oben stand, sechzig Meter über der Ostsee, mit meinem sinnlosen Reichtum und daran dachte, noch einen Schritt weiter und über die Klippe hinauszugehen.
Als es vorbei war, weinte Inez noch immer. Draußen stand ein Stern über einer Wolkenbank.
Ich hielt sie und flüsterte und kam mir alt und abgeklärt vor. Sie wollte, dass ich in dieser Nacht bei ihr blieb.
»Was für ein Desaster, Erik«, sagte sie, als wir nebeneinanderlagen.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht genau.«
»Hab ich dir weh getan?«
»Nein.«
»Bist du wütend?«
Sie sagte nichts. Sie stand auf. Sie nahm das Nachthemd vom Boden. »Deine Hände«, sagte sie dann. »Diese verwahrlosten schönen Hände.«
Sie ging ins Bad. Ich lag da und sah draußen helle Sturmwolken ziehen. Ich wartete. Es kam mir vor, als hätte ich noch nie im Leben so gewartet. Ich hörte das Wasser, dann lange Zeit nichts, und als ich schon dachte, ich sei eingeschlafen, als ich, was sie sagte, hörte wie im Schlaf, streichelte sie meine Wange und strich mit den Fingerspitzen mein Haar aus der Stirn.
»Es hat mir vorher besser gefallen, allein zu sein.«
Sie kam neben mich.
»Erinnerst du dich, was ich dir von Muramaris erzählt habe? Diese Malerin und ihr Sohn? Ich habe von ihm geträumt.«
»Lass deine Hand da.«
»Wir haben ihn an den Strand geschickt. Wie du gesagt hast. Aber dann haben wir Angst bekommen. Ich muss ihn retten. Ich sehe ihn vor mir herlaufen. Er klettert das Kliff hinunter. Er ist unvorsichtig, er weiß nicht einmal, dass man vorsichtig sein muss, und da fange ich an zu rennen. Aber der Abstand zwischen uns wird nur größer. Ich versinke im Sand. Er lacht, dreht sich zu mir um und läuft in die Wellen. Er lacht noch, als ich stürze, als der Sand mich schon verschlingt. Und als ich endlich aufstehen kann, ist er verschwunden. Ertrunken, nehme ich an.«
Wir lagen eine Weile still nebeneinander.
»Mich rettest du immer«, sagte ich. »Jedenfalls vor diesem Sonntagnachmittagsgefühl.«
»Schlaf, Erik.« Sie streichelte mein Gesicht. »Morgen wird das nur ein Traum gewesen sein.«
Ich weiß nicht, ob Inez in dieser Nacht geschlafen hat. Ich nahm mir vor, darauf zu achten, ich bemühte mich, nicht einzuschlafen, aber dann war es schon Morgen, und neben dem Bett stand ein Espresso, und sie war nach draußen gegangen und warf den Motor des Minitraktors an.
Feldberg war abgereist. Die Tordalke wurde begraben. Inez kam am nächsten Tag nicht ins Büro. Die Praktikantin sagte, sie habe sich krankgemeldet, und sie beauftragt, mir zu sagen, dass ich die restlichen Datenlogger einlesen und sie für den nächsten Einsatz vorbereiten solle.
»Dich beauftragt?«, sagte ich.
»Ja.« Sie strahlte mich an. »Und heute Mittag könnten wir zusammen einen Kaffee trinken, draußen, es ist gar nicht kalt, und vielleicht kannst du mir –«
»Inez hat
dich
beauftragt, das
mir
zu sagen?«, sagte ich noch mal.
»Ja. Irgendwas komisch?«
»Allerdings«, sagte ich. »Du scheinst darüber außergewöhnlich glücklich.« Ich schob die glückliche Praktikantin zur Seite und rannte aus dem Museum, hinüber zum Strand bis zur Landzunge, an der der schmale Trampelpfad endete, und weiter über die Steine zu Inez’ Hütte. Inez war nicht da. Oder sie machte nicht auf. Das Fenster, das zugänglich war, zeigte die Küchenzeile, aufgeräumt, unberührt. Zwei Tassen standen im Abtrockenkorb. Das andere Fenster war vom Ginster zugewachsen.
Inez war an diesem Tag da gewesen. Sie hatte auf dem Bett gelegen und mich klopfen gehört. Aber sie hatte sich nicht gerührt, und ich war beim Versuch, zum Schlafzimmerfenster vorzudringen, mit meinen Flipflops auf den Steinen abgerutscht. Ich hatte mir den Zeh gestoßen, und die Dornen des Ginsters hatten mein T-Shirt zerfetzt.
Plinthosella Squamosa
Inez Rauter
lag ganz ruhig. Sie hörte den Jungen auf den Steinen vor der Hütte und lag da, ohne zu atmen, obwohl ihr Atmen von draußen nicht zu hören sein konnte. Sie hatte sich bis zum Hals zugedeckt. Hitze trieb durch ihren Körper. Sie bekam nie Fieber. Sie bekam auch keine Kopfschmerzen, aber an diesem Morgen hatte sie Fieber und Kopfschmerzen und hasste die Sonne, die
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