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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Stunde später und legte am Nachmittag eine Stunde früher wieder ab.
    Das Licht war schon blass. Wenn ich im Hafen eine Runde drehte und die Sonne so tief stand, dass sie frontal in die Augen schien, ohne zu blenden, und wenn die Kette, mit der das einzelne Ruderboot am Kai vertäut war, gegen den Metallpfosten klapperte, wenn sie immer wieder mit der gleichmäßigen Unruhe der Wellen anschlug, war es dieses Geräusch, das mich zu Inez trieb.
    Ich fiel bei ihr ein wie ein Verfolgter.
    Es war die Leere endloser Sonntagnachmittage, die mich in diesem Hafen überfiel. Dieselbe Ödnis wie mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn, als ich in der ausgetrockneten Heizungsluft meines Zimmers oder auf einer demolierten Tischtennisplatte hinter dem Haus herumgelungert hatte, umringt von Plattenbauten, die unter ihrem orangefarbenen Anstrich immer noch grau waren. Oder ich hatte im Frittieröldunst des einzigen Imbisses abgehangen, der sonntags geöffnet hatte und von Vietnamesen betrieben wurde, die außer ihren Asia-Pfannen auch Pommes verkauften, nebenan neueröffnete Geschäfte, die gelbe und grüne Blusen mit Schulterpolstern angeboten, aber schon wieder dichtgemacht hatten und in denen Pappe in den Fenstern hing, auf denen
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stand. Ich begann, mir selbst so ein Schild um den Hals zu phantasieren,
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an alle, die vorbeikamen, die mich hier rausholten. Aber niemand kam.
    Inez rettete mich. Sie rettete mich jedesmal, auch wenn ich nicht mehr in Neubrandenburg, sondern auf Stora Karlsö und erwachsen war und nur das Echo dieser Nachmittage noch durch den Körper hallte.
    Mitte oder Ende August.
    Sie blieb oft länger im Büro,
wegen der Schriebse
, wie sie das formulierte, Fragebögen, die sie für den Verein auszufüllen hatte. Sonntags hatte sie frei. Wenn keine Touristen kamen, arbeitete sie an ihrer Doktorarbeit. Ich fiel in ihrer Hütte ein, und sie fuhr den Laptop herunter und zog meinen Kopf an ihre Brust, und einen dieser Abende habe ich besonders deutlich in Erinnerung.
    Inez hatte Pasta gemacht mit einer scharfen, roten Soße. Wir hatten gegessen, und draußen hatte es angefangen zu regnen, und sie hatte die kleine rote Stehlampe eingeschaltet und den Wein geöffnet, den wir zusammen in Visby gekauft hatten. Ich war mitgefahren, weil mir die Stadt gefiel und Inez der Meinung war, ich würde bald eine wärmere Jacke brauchen, und im
Systembolag
hatte sie gesagt, Merlot oder Tempranillo, und ich habe keine Ahnung von Wein und sagte Merlot. Sie lächelte, prüfte noch einmal die Etiketten und nahm den Tempranillo. Als Inez die Reste der Soße mit einem Stück Weißbrot vom Teller strich, räumte ich unsere Gläser ab. Ich küsste ihren Nacken unter dem Haaransatz, biss in den Muskel neben der Wirbelsäule, bis sie Gänsehaut bekam, und sah zu, wie sie die Teelichte im Aschenbecher entzündete. Wir zogen uns aus. Ich wollte, dass Inez sich auf den Bauch legte.
    Sie warf ein Kissen nach mir. Sie hasste es, auf dem Bauch zu liegen, weil sie mich dann nicht sah. Ich schob das Kissen weg. Ich rollte sie sanft und ohne ein Wort auf die Seite, wo sie halb aufgestützt liegenblieb. Ich legte mich hinter sie und nahm sie in den Arm. Sie sagte, dass das nicht ginge, dass ich das nicht dürfe, und sie schob mich nicht weg. Sie griff nach meiner Hand, die ich an ihre Brust gelegt hatte, und unter ihrer Berührung wurde ich still.
    Ihr Kopf sank auf das Kissen. Und so blieben wir.
    Reglos.
    Für einen Moment, in dem sogar die Wellen der Ostsee innezuhalten schienen.
    Dann hob sie ihr Becken, dieses schmale, so leicht zu umfassende Becken, das mir wie das Becken eines Mädchens vorkam. Aber Inez hatte mit diesen Mädchen nichts gemein. Es waren Mädchen mit feuchten, unsicheren Händen und einem faden Mixgetränke-Geschmack auf den Lippen gewesen, an die ich mich im Einzelnen kaum erinnerte, weil ich immer dann, wenn es passiert war, zu viel getrunken hatte.
    Inez hob mir ihr Becken entgegen. Sie gab meinem Drängen nach. Sie lag auf ihre Unterarme gestützt, ihr nackter gebogener Rücken unter meiner Hand, sie bot sich mir an. Und erst da, erst, als sie so vor mir war und ich mich an sie drängte, fiel mir auf, wie angespannt ihr Körper gewesen war, als hätte sie jahrelang unter Druck gestanden, und der Druck ließe jetzt langsam nach.
    Als ich eindrang, widersetzte sie sich. Sie schien sich mir noch zu widersetzen, als sie schon den Rhythmus aufnahm, den ich vorgab, den ich nicht vorgab, denn ich war das nicht,

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