Sturz der Tage in die Nacht
dicht an ihm vorübergekommen war auf der Suche nach dem Busfahrplan. Hatte mich nicht jemand nach der Uhrzeit gefragt?
Vielleicht war er mir zu den Klappersteinfeldern gefolgt, den weißen, steinernen Stränden, die wie ein halber Rettungsring die Nordwestspitze von Gotland umgeben. Vielleicht hatte er nicht weit von mir zwischen den Raukar gestanden, hatte sich hinter einer dieser Kalksäulen verborgen, die Finger auf der sonnenwarmen porösen Steinhaut, diese von Sommersprossen rötlich gefärbten Finger. Ich sehe es genau. Ich sehe seine Finger an der weichen Gesteinshaut herumkratzen, während er zu seinem Zielobjekt hinübersieht. Ich sehe ihn Schichten freilegen, die aus Fossilien bestehen, aus Algen, Schnecken und Muschelkörpern, deren Substanz sich längst aufgelöst hat, die aber als Abdruck noch immer erhalten sind und jetzt von diesen Fingern zu Kalkstaub zermahlen werden.
Feldberg konnte sich unter die Menschen gemischt haben, die mit Autos und Bussen angereist waren, um sich die Raukar anzusehen. Er konnte mich dabei beobachtet haben, wie ich einen Stein aufhob. Der Stein hatte ein Loch. Er klapperte, und ich hielt ihn mir ans Ohr, was idiotisch ausgesehen haben musste.
Ich bilde mir sogar ein, mich an einen Mann zwischen den Raukar zu erinnern, der die gedrungene Statur Feldbergs hatte und die gleiche Art, verlegen in die Sonne zu blinzeln. Ich erinnere mich auch, dass Feldberg nachts beim Aqua- vit von der Raukar-Küste geredet hatte. In der Küche des Leuchtturms hatte er gesagt, dass ihm an der Raukar-Küste klar geworden sei, wie gefährdet wir seien, von Zeit und Wind abgeschliffene, umgebogene Kreaturen, ohne Ausnahme, alle. Ohne Rücksicht auf die Regeln, denen wir gehorchen, auf die Vorzeichen, unter denen wir geboren seien. In der Küche hatte er auch wieder von seinen Geheimnissen gefaselt, die nicht von vornherein da seien, sondern erst in die Menschen hineinbefördert werden müssen, um sie anschließend aus ihnen herauslocken zu können, und dann hatte er von Schwachstellen geredet.
In den Schwachstellen sitzt die Vergänglichkeit
, hatte er, schon angetrunken, erklärt.
Auch bei Ihnen, Erik. Ihre ganz persönlichen Schwächen, das sind die Stellen, durch die der Wind pfeift, der Sie an die Zufälligkeit Ihrer Existenz erinnert. Ich kenne nichts Trostloseres als den Zufall,
hatte er mit schwerer Zunge gesagt
, wenn Sie bemerken, wie sehr Sie von sich erwartet haben, etwas zu bedeuten, und dann hören Sie in Ihrem Inneren nur das hohle Echo dieses Windes.
Stolz sei so eine Schwachstelle. Eitelkeit. Ein Hang zur Exzentrik. Ein Sinn für Gerechtigkeit.
Man muss sich diese Stellen schmerzhaft bewusstmachen, Erik, und dann immer feste gegensteuern!
Familienbande seien Schwachstellen. Die Liebe zu einem Hund. Zu einem Kind.
Vielleicht war Feldberg auch in der Nähe, als ich abends in den sonnenroten Fåröer Felsen saß und glaubte, allein zu sein, allein und frei, der einzige Mensch, der elf Uhr abends mit
Lättöl
und dem Räucherlachs, den ich zuvor einem jungen Mädchen abgekauft hatte, am Klappersteinstrand von Langhammars saß und Picknick machte. Ich hatte mich allein geglaubt, als ich Fischhaut und Gräten in einer Felsspalte verschwinden und ein paar flache Steine über die Wellen springen ließ, und ich hatte mich allein geglaubt, als ich später ins Naturschutzgebiet pinkelte. Ich hatte mich allein geglaubt mit dem Gras und dem Geröll und den Küstenseeschwalben. Auf einer Wiese hatte ich mein Zelt aufgeschlagen. Ich hatte mich bis auf die Unterhosen ausgezogen, ich hatte an den Socken gerochen und beschlossen, sie am nächsten Tag noch einmal zu tragen, ich hatte mich im Zelt in den Schlafsack gelegt im Glauben, ich wäre der Einzige hier. Dabei war ich nur der Einzige von uns beiden, der nicht wusste, dass es einen Schatten gab, einen durchsichtigen Schatten, der die ganze Zeit auf mir lag.
Feldberg wusste von Anfang an, wer ich war.
Er hatte sich in Klintehamn einquartiert und mich über den leeren Parkplatz im Hafen laufen sehen; ein Junge mit Rucksack und Shirt, an den Füßen Chucks und im Gesicht das naivste und gutgläubigste Lächeln, das je ein Mensch haben kann.
Feldberg wusste, bei wem Inez Halt suchte, als ich am Kai an ihr vorüberging. Er wusste, nach wem sie griff.
Feldberg sah ihre Hand an meinem Arm, und obwohl er Inez aufgegeben hatte, obwohl er sie längst nicht mehr zu den Frauen zählte, um die er sich bemühte, war sie schön, sie musste ihm noch
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