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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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waren die aussichtslosen Fälle, die er säuberlich von denen unterschied, an denen
weitere Arbeit zweckmäßig
war.
    Inez gehörte in keine dieser Kategorien. Jemand, der sich selbst verleugnete, verdiente seine besondere Aufmerksamkeit. Das wusste Inez. Sie quetschte sich beim Einbau der Kette ihre linke Hand. Während sie das Kühlkissen, das ihr der Kapitän aus dem Sanikasten der Fähre geholt hatte, auf die schmerzende Stelle drückte, weckte sie ein Klopfen aus ihren Fieberträumen.
    Sie lag in ihrer Hütte auf dem Bett. Sie hörte Eriks Stimme. Er rief nach ihr. Er klopfte. Sie lag reglos da. Sie hörte ihn fluchen. Er hämmerte mit der flachen Hand gegen die Tür. Sie atmete nicht. Dann hörte sie, wie sich seine Schritte entfernten. Das Bett unter ihr schwankte. Es wurde von Wellen angehoben und abgesenkt, schließlich rutschte es immer mehr in eine Schräglage. Sie hing am oberen Ende. Ihr Körper verkrampfte sich. Sie klammerte sich ans Bettgestell, um nicht in die Tiefe zu stürzen, und in dieser Tiefe sah sie unter sich einen Spielplatz.
    Der Spielplatz lag zwischen Neubauten. Von der Schaukel war ein Holzsitz gerissen, im Sandkasten lagen Kippen und altes Papier. Es war der Spielplatz auf dem sie sich oft abends mit Freundinnen getroffen hatte. Sie hockten auf dem Betonrand des Sandkastens, sie tranken Apfelschnaps, sie rauchten, es wurde dunkel, und die Freundinnen zogen ab.
    Später bremste ein Auto, Sand schlug auf, Türen knallten, das waren die jungen Männer, die immer erst kamen, wenn die Jüngeren schon nach Hause gegangen waren, die Männer mit ein paar Mark in der Tasche, sie kamen mit Mopeds und brachten Wodka mit, aber an diesem Abend war ein Auto gekommen und nah an den Spielplatz herangefahren.
    Rainer Feldberg hatte sich auf den unteren Sitz der Wippe gesetzt.
    »Wie lange willst du oben bleiben?«, sagte er.
    »Bis Mittwoch«, rief sie und klammerte sich an den Eisengriff.
    Rainer Feldberg zählte die Wochentage dreimal durch und ließ dreimal den Mittwoch aus. »Tja«, sagte er. »Nicht so einfach. Was krieg ich, damit es schneller Mittwoch wird?«
    »Versuch’s noch mal.«
    »Pech«, sagte er. »Klappt nicht. Und der Getränkenachschub ist auch bei mir.« Eine Wodkaflasche stand neben ihm im Sand.
    »Mittwoch kommt nach Dienstag.«
    »Was krieg ich dafür?«
    »Vielleicht können dir deine Kumpel helfen.«
    »Haben sich alle verdünnisiert, wie’s aussieht.« Er kreuzte die Arme über der Wippe. »Schicker Rock«, sagte er. »Bestimmt auch was Schickes drunter.«
    »Nicht für dich.«
    Irgendwo ging ein Licht aus. »Ich könnte die Wippe festbinden und nachgucken.«
    »Dann schrei ich. Ich schrei das ganze Wohngebiet zusammen.«
    »Einen Versuch wär’s wert. Das wird die Sportsfreunde vielleicht sogar ans Fenster locken.«
    »Lass mich runter«, sagte sie. »Kapierst du nicht? Es macht keinen Spaß mehr.«
    »Ich wette, da ist ein kleiner heißer Punkt drunter, dem es schon angefangen hat, Spaß zu machen.«
    »Lass sie runter.« Inez hatte nicht bemerkt, dass außer ihr und Rainer Feldberg an diesem Abend noch jemand auf dem Spielplatz zurückgeblieben war. Ein Mann lehnte am Klettergerüst. Inez sah den Glühpunkt einer Zigarette, sie sah nur das Aufleuchten der Zigarette, nicht sein Gesicht. Sie sah, wie der Glühpunkt einen Schlenker in der Luft machte, sternschnuppengleich zu Boden fiel und im Sand erlosch. Sie sah das Aufglühen der Zigarette und hörte ihn sagen: »Lass sie runter, Kumpel, du hast doch gehört, es macht ihr keinen Spaß mehr.«
    Rainer Feldberg stand abrupt auf. Die Wippe gab nach, und sie sauste nach unten, sie fiel und fiel und schlug schließlich unsanft mit der Hand gegen die Wand hinter ihrem Bett.
    Der Schatten des Ginsters war hinauf zur Decke gewandert.
    Inez lag in ihrer Hütte. Sie war wach. Sie rollte sich auf die Seite und versuchte, sich die Person vorzustellen, die sie mit fünfzehn, mit sechzehn gewesen war, in jenen Jahren mit Rainer Feldberg und Felix Ton.
    Felix Ton, der am Klettergerüst gelehnt und zugesehen hatte, als würde ihm die Vorstellung gefallen, ihr Retter zu sein. Später hatte sie gedacht, dass es ihm vielleicht schon damals gefallen hatte, sie ausgeliefert zu sehen.
    Die Bilder drängten ununterbrochen heran.
    Sie zeigten den Hafen von Wieck. Sie zeigten einen Tag in den Sommerferien, in diesen acht Wochen langgestreckter Zeit, bevor auf den Feldern die Ernte begann und sie in die zehnte Klasse versetzt wurde. Inez hatte

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