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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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durch das Fenster fiel und den Schatten des Ginsters auf die weißverputzte Wand warf. Sie hasste das grelle Licht und das zitternde, schwarze Bild gegenüber, das zu einer dürren, knochigen Hand mit riesigen Fingern wurde, Tentakeln, die nach ihr griffen, durch die Haut drangen, sich in die Venen hineinschoben und Hitzeschübe verursachten.
    Inez versuchte, nüchtern zu bleiben. Das schwarze Bild war nur der Schatten des Ginsters, die Hitze kam von erhöhter Temperatur. Sie musste sich erkältet haben. Sie ärgerte sich, dass Kopfschmerztabletten nicht zu ihrer Erste-Hilfe-Ausrüstung gehörten. Alles, was sie in ihrem Badeschrank finden konnte, waren Mittel zur Wundversorgung und Kräutertropfen, die ihr der Kapitän wegen einer Magenverstimmung vor längerer Zeit besorgt hatte.
    Sie versuchte zu schlafen. Aber sie hatte die ganze letzte Nacht schwer und erschöpft geschlafen, und es war nur das Fieber, das ihr den Eindruck von Müdigkeit gab, darunter war sie hellwach. Sie hörte den Jungen an der Tür und wie er versuchte, zum Schlafzimmerfenster durchzudringen, sie hörte das Poltern der lockeren Steine, sein Fluchen, als er abrutschte, sie hörte das Brechen von Zweigen, sie sah, wie der Schatten des Ginsters wackelte.
    Inez drehte sich vom Fenster weg und schloss die Augen. Sie wollte den Jungen nicht sehen.
    Gestern hatte sie die Tordalke begraben.
    Sie war bei einem Spaziergang am Strand auf den Vogel gestoßen. In der Ferne hatte sie ein schwarzes Bündel liegen gesehen und war in der Annahme, dass es sich um einen Müllsack handeln müsse, verärgert darauf zugegangen. Jemand musste den Müllsack halbvoll ins Gebüsch am Ufer geschleudert haben, wo er von den Wellen aufgegriffen, weggetragen und an einer anderen Stelle wieder angespült worden war. Erst im Näherkommen hatte sich der Umriss eines Vogelkörpers abgezeichnet. Das Gefieder war schlammbesudelt, ein Flügel war hochgerissen, der Hals wie umgeknickt gewesen.
    Abrupt war sie stehen geblieben. Sie hatte für einen Moment noch das Gefühl haben wollen, sich zu täuschen. Sie hatte für einen Moment noch glauben wollen, es könnte irgendein Vogel sein. Es wäre nicht Friederike. Sie hatte glauben wollen, Friederike flöge in diesem Moment über sie hinweg in den Süden.
    Der Himmel war leer geblieben.
    Inez hatte sich in den Sand gekniet. Sie hatte die Handschuhe vom Gürtel losgemacht und sie angezogen. Vorsichtig hatte sie den hochgerissenen Flügel an den Körper zurück gelegt. Sie hatte ihre Hände zu einer Mulde geformt und sie unter den Körper im Sand geschoben. Als sie die Alke aufgehoben hatte, war ihr der Kopf weggerutscht und schlaff zwischen die Unterarme gefallen. Sie hatte aufgeschrien.
    Später hatte sie mit dem Feldspaten ein Loch unter einem Wacholder ausgehoben. Sie hatte die Alke hineingelegt und den aufgeschnittenen Leib mit Wacholderzweigen bedeckt. Beim Sezieren hatte sie Tollkirschen gefunden. Es hatte nichts genützt. Man hatte ihr die Alke genommen, und die Ursache zu kennen konnte sie nicht wieder lebendig machen. Inez hatte die Stelle mit Erde zugeschaufelt. Es gab andere Vögel. Es gab tausende Vögel in der Kolonie. Es gab hunderte solcher Kolonien. Und eines Tages würde sie vielleicht sogar wieder einen darunter finden, zu dem sie morgens hinausgehen und der sie erkennen würde. Und dann würde sie auch den wieder verlieren.
    Nachts bekam sie Fieber. Sie wusste nicht mehr, ob sie wach war oder schlief. Sie sah den aufgeschnittenen Vogelbauch vor sich, dann erschien Feldberg riesenhaft am Rand des Plateaus. Erik saß neben ihr und erzählte einen Witz, Feldbergs Schatten fiel auf ihre Bluse. Der Schatten wuchs, während Feldberg näher kam. Sie hatte für diesen Abend eine besonders schöne Bluse ausgesucht, sie hatte das für den Jungen getan. Sie trug eine weiße Bluse aus glänzender Rohseide, weil sie mehrmals beobachtet hatte, wie Erik den Stoff einer Jacke oder eines Hemdes befühlte, und sie ihm zeigen wollte, dass sie das bemerkt hatte. Es war ihre Art, ein Geständnis zu machen.
    Feldberg hatte seinen Hut abgesetzt und hielt ihn ihr wie eine Schüssel hin, und als sie nicht zufasste, drehte er die Schüssel um, und die Alke stürzte ihr tot vor die Füße. Inez schreckte hoch.
    Sie versuchte aufzustehen, um sich ein Glas Wasser zu holen, aber die Fieberbilder überfluteten sie. Feldberg drückte sie zurück auf die Sonnenliege und flüsterte:
Sechzehn Jahre, Inez. Ist das nicht ein bisschen so wie nach Hause

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