Sturz der Tage in die Nacht
schöner vorgekommen sein als in seiner Erinnerung, natürlich war das so, sie war die Schönste, und er wünschte sich, der Arm dieses Jungen wäre seiner, und er wehrte sich gegen diesen Wunsch und hörte für einen Moment auf, klar zu denken.
Vielleicht war Feldberg sogar die Vermutung gekommen, dass die flüchtige Berührung im Hafen am Kai ein Zeichen war. Er sah sie als Zeichen dafür, dass wir uns schon kannten, Inez und ich, dass etwas hinter seinem Rücken vorgefallen und ihm entgangen war. Das musste einen wie Feldberg nervös machen. Vielleicht wollte er deshalb so dringend mit mir zu den Vogelfelsen gehen. Vielleicht wollte er überprüfen, ob seine Vermutung stimmte.
Alles Rekonstruktionsversuche.
Vielleicht hat Inez bei all dem eine ganz andere Rolle gespielt.
Wer kann das heute noch so genau sagen.
Nur: welche Rolle spiele ich.
Noch einmal möchte ich Inez so nah sein wie damals im Juli, im August. Ich möchte ihr noch einmal so nah sein, wie man sich nur in Unkenntnis voneinander nah sein kann.
Alles andere versuche ich hinauszuzögern. Ich versuche, die Erinnerung an den Streit hinauszuzögern, den wir in einer stürmischen Nacht in ihrer Hütte hatten, Inez und ich, in derselben Nacht, in der ich später oben an der Klippe stand, sechzig Meter über der Ostsee. Ich versuche, die Erinnerung an die Gespräche über Felix Ton hinauszuzögern. Ich möchte noch einmal in diesen ahnungslosen Zustand zurückkehren, in dem ich mich befand, bevor ich von den Ereignissen auf dem Spielplatz oder auf Feldbergs Datsche erfuhr, bevor ich von den regelmäßigen Besuchen wusste, die Felix Ton Rainer Feldberg abstattete, in der Zeit, als Ton in Karlshorst studierte. Ich möchte noch einmal nichts von Felix Tons Interesse an Inez wissen oder von seinem Interesse an ihrem Vater, was nicht dasselbe war, einander aber bedingte, wie Inez vermutete.
Ich möchte ihn noch einmal haben, diesen freien Blick zurück auf eine versinkende Insel.
Solange der Dunst, der über der Fähre hängt, die Trennschärfe aufhebt, mit der Wasser, Himmel und Land voneinander unterschieden sind, solange ich keinen festen Boden unter den Füßen habe und die Vögel das einzige Zeichen für Festland sind, möchte ich alles noch einmal sehen. Arglos und ohne das Wissen von dem, was später kam.
Inez.
Wie sie über die Wiese geht. Wie sie dem vom Regen aufgeweichten Pfad hinauf zur Steilküste folgt. Wie der Rückenwind ihr das Haar aufwirbelt und um den Kopf tanzen lässt.
Wie sie ausschreitet und ihr heller Schatten neben ihr über die Felsen gleitet. Wie sie sich umdreht und ruft
Erik, hast du die Orchideen gesehen? Du hast gedacht, es ist Unkraut, oder? Falsch! Es ist breitblättriges Knabenkraut und gehört zur Gattung der Dactylorhiza. Wilde Orchideen, die auf stickstoffarmen Feuchtwiesen wachsen.
Inez.
Wie sie die Hände in die Taschen ihrer Khakihosen schiebt und aufs Meer sieht, das hinter der Felskante beginnt.
Inez.
Wie sie mir erklärt, dass der Stein, den ich zwischen den Raukar auf Fårö gefunden hatte, Klapperstein heißt.
Klappersteine sind selten. Zuerst hält man sie für Feuersteine, weil die Flintkugel anthrazitfarben ist und aussieht wie beim Feuerstein. Aber ein kleines Loch in der Flintschale unterscheidet sie. Im Inneren gibt es einen versteinerten Schwamm,
Plinthosella Squamosa
. Vor Millionen Jahren hat das Meerwasser ein Loch in die Flintschale gespült. Das Meer hat das Innere des Klappersteins ausgewaschen. Der Schwamm blieb lose zurück und versteinerte. Man kann diesen Schwamm nicht sehen. Aber du hast ihn klappern gehört.
Inez.
Der ich nie gesagt habe, wie mir die Hände schmerzten. Sie schmerzten, wenn ich Inez berührte. Es war ein ziehender Schmerz in den Handinnenflächen, den ich zum ersten Mal gespürt hatte, als ich sie eines Nachts im Bett auf den Bauch drehte. Anfang oder Mitte August.
Die Nächte wurden länger. Die Schaumkronen der Ostsee leuchteten im Dunkel. Wir konnten sie vom Fenster der Hütte aus sehen. Die Vögel hatten die Insel verlassen. In den letzten Tagen des Juli hatten sich immer mehr Tiere unterhalb der Steilküste auf dem Wasser gesammelt, ein schwarzgefleckter Teppich, der langsam weiter aufs Meer hinaustrieb, und innerhalb weniger Wochen waren die Felsen leer. Kein Schreien mehr nachts, keine fallenden Schatten, nur der Geruch blieb zurück. In der Nähe der Kolonien roch es noch immer streng, die Felsen waren mit weißgrauem Kot bedeckt. Die Fähre kam eine
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