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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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kommen?
    Er sah sie so bedeutungsschwer an, dass seine Augen sich aus dem Kopf herausschraubten und wie eigenständig auf sie zu schwebten, und als sie versuchte, diesen Augen auszuweichen, und sich wegduckte, überlegte sie verzweifelt, was Feldberg damit meinte.
    Es konnte ihm nicht darum gehen, sie an ihre Eltern zu erinnern. Er wollte sie nicht an ihr altes Zimmer erinnern oder an den Schulweg, den sie täglich mit ihrem Rad gefahren war, vorbei an der Kinderkombination, der Sporthalle, dem Schotterplatz, auf dem nachmittags gebolzt wurde, vorbei an dem hohlen, vom Blitz gespaltenen Baum, der im Winter von Dohlen bevölkert war. Er wollte sie nicht an das Wohnheim erinnern, in dem sie zwei Jahre verbracht hatte. Oder jedenfalls nicht nur.
    Inez versuchte sich zu konzentrieren, aber die Bilder trugen sie weg. Sie sah auf einmal das Wohnheim in Einzelheiten vor sich, sie sah die gefliesten, schmutzigen Gemeinschaftsduschräume, die Flure im Neonlicht, sie sah die wackligen Möbel mit aufgeklebtem Holzfurnier, das abblätterte oder abgepult worden war von all den Mädchen, die vor ihr dort eingezogen und wieder ausgezogen waren, die ihre Kluft in dieselben Schränke gehängt hatten wie sie, ihre Dederonstrümpfe, ihre Manchesterhosen, die glänzenden Nylonanoraks, die Parkas und Römerlatschen, mit den Bildern kamen auch Worte, altes, vergessenes Vokabular, das das Fieber aufspürte; die Klammeraffen und Filzstifte, die in der Assiette gebackenen Kuchen, die Pfeffis, die sie gelutscht, die Plempe, die sie getrunken, die Lippenpomade und die Frommse, die sie unter der Matratze versteckt hatten, die blau-weißen Essengeldturnschuhe, der Muckefuck, die Nickis, die Klettis, die Abende, an denen sie mit den anderen
übelst einen drauf
gemacht, die Morgen, an denen sie
blau gefeiert
hatte, ohne für einen Moment zu vergessen, dass sie nicht in einem Lehrlingswohnheim, sondern an einer Erweiterten Oberschule mit Abitur hätte sein sollen. Die Bilder waren so eindringlich, dass sogar der Geruch wieder auftauchte, der in der Kleidung und den Möbeln gehangen hatte, der süßlich schleimige Geruch nach Roggen, Gerste und Zuckerrüben, die sie in achtstündigen Schichten zu Mehl, Grieß oder Kleie zerkleinert hatten.
    Nichts davon konnte Feldberg gemeint haben.
    Inez lag fiebernd im Bett und versuchte, die gedankliche Konstruktion dieses Mannes zu ergründen, der es schon immer verstanden hatte, die Menschen zu verunsichern, der die Menschen aber nicht verstand. Er schien darauf anzuspielen, dass sich mit dem Alter von sechzehn Jahren ein bestimmtes Gefühl verband. So wie es ein Gefühl dafür gab, zum ersten Mal das Meer zu sehen oder zum ersten Mal zu küssen, schien Feldberg sagen zu wollen, dass der Zeitabschnitt von sechzehn Jahren in ihr ein ganz besonderes Gefühl wecken sollte.
    Aber sie konnte die Person, die sie mit sechzehn gewesen war, und die, die sie heute war, nicht in Einklang bringen. Und nur dann, dachte sie, nur, wenn sie zu dieser Person überhaupt einen Kontakt hätte herstellen können, hätte ihr Interesse an dem Jungen mit seinem Alter zu tun haben können, vorausgesetzt, dass die Rückkehr in eine frühere Version der eigenen Persönlichkeit so etwas wie nach Hause kommen war, und Erik ihr diese Rückkehr ermöglichte.
     
    Feldberg hatte sie vorgetäuscht, dass sie ihn nicht kannte, und Feldberg hatte gesagt: »Beweise mir das mal. Beweise mir, dass ich dich nicht kenne.«
    Feldberg hatte ihre Schritte nach rechts und nach links, mit denen sie ihm ausweichen wollte, gespiegelt, und dann hatte Inez sich von seinem Griff befreit und war zum Hafen gelaufen, um zusammen mit dem Kapitän die neue Kette an ihrem Minitraktor aufzuziehen.
    Inez wusste, dass Rainer Feldberg sich Menschen merkte, die ihn abblitzen ließen. Nicht, weil er sich gekränkt fühlte und auf Genugtuung sann. Vorfälle, bei denen er nicht weiterkam, bei denen er abgewiesen wurde, nahm er längst nicht mehr persönlich. Er hatte gelernt, sie als etwas zu betrachten, das in seinem Beruf regelmäßig anfiel; Objekte, an denen zielgerichtet zu arbeiten war. Sie sich zu merken war ein bloßer Reflex. Er hatte auch gelernt, die Art, in der Menschen ihn abwiesen, in verschiedene Kategorien einzuteilen. Da waren die sturen Neinsager, die Wackelkandidaten und die Schüchternen, die nickten, aber
nein
meinten, da waren die Herauswinder mit ihren durchschaubaren Ausflüchten und die, die ihm auf den Kopf zusagten, was sie von ihm hielten. Das

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