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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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frischer Tat im Ehebruch.‹«
    In der Bethesda-Kapelle wurde es schlagartig still. Niemand rührte sich, flüsterte oder hustete auch nur.
    Billy las weiter: »›Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen; was sagst du? Das sprachen sie aber, ihn zu versuchen, auf dass sie eine Sache wider ihn hätten. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun anhielten, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen …‹«
    Billy hielt inne und sah auf.
    Er betonte jede Silbe, als er sagte: »›Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.‹«
    Alle starrten ihn an. Niemand rührte sich.
    Billy fuhr fort: »›Und bückte sich wieder nieder und schrieb auf die Erde. Da sie aber das hörten, gingen sie hinaus, von ihrem Gewissen überführt, einer nach dem andern, von den Ältesten bis zu den Geringsten; und Jesus ward gelassen allein und das Weib in der Mitte stehend. Jesus aber richtete sich auf; und da er niemand sah denn das Weib, sprach er zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand.‹«
    Billy sah von der Bibel auf. Den letzten Vers brauchte er nicht zu lesen; er kannte ihn auswendig. Er blickte in das steinerne Gesicht seines Vaters und sagte langsam und betont: »›Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.‹«
    Nach längerem Schweigen klappte Billy die Bibel mit einem Knall zu, der in der Stille wie ein Böllerschuss hallte. »Das ist das Wort Gottes«, sagte er.
    Billy setzte sich nicht, sondern ging zum Ausgang. Die Gemeinde starrte ihm hinterher und beobachtete, wie er die große Holztür öffnete und ins Freie trat.
    Er kam nie wieder.

Kapitel 9
    Ende Juli 1914
    Walter von Ulrich bekam den Ragtime einfach nicht hin.
    Er konnte die Melodien spielen, aber das war einfach. Er konnte die Akkorde spielen, die meist aus Septimen gebildet wurden. Er konnte auch beides zugleich spielen, nur klang es eben nicht wie Ragtime. Der Rhythmus wollte sich ihm einfach nicht erschließen. Das Ergebnis seiner Bemühungen entsprach musikalisch eher dem, was eine Kapelle in einem Berliner Biergarten zustande brachte. Für jemanden, der perfekt Beethoven-Sonaten spielte, war das ganz schön deprimierend.
    Maud hatte ihm den Ragtime an jenem Samstagmorgen auf Ty Gwyn beizubringen versucht, an dem Bechstein-Flügel im kleinen Salon mit den Topfpalmen, während die Sommersonne durch die hohen Fenster fiel. Hüfte an Hüfte hatten sie auf der Klavierbank gesessen, die Arme ineinander verschlungen, und Maud hatte über Walters Versuche gelacht. Es war ein Moment goldenen Glücks gewesen.
    Doch Walters Stimmung hatte sich verdüstert, als Maud ihm erzählte, wie sein Vater sie gedrängt hatte, mit ihm Schluss zu machen. Hätte er seinen alten Herrn am Abend seiner Rückkehr nach London gesehen, es wäre zur Explosion gekommen. Aber Otto von Ulrich war nach Wien gefahren, und Walter hatte seinen Zorn herunterschlucken müssen. Seitdem hatte er seinen Vater nicht mehr zu Gesicht bekommen.
    Walter hatte Mauds Vorschlag zugestimmt, ihre Beziehung geheim zu halten, bis die Balkankrise vorbei war. Fast vier Wochen waren seit dem Attentat in Sarajevo vergangen, doch der österreichische Kaiser hatte den Serben noch immer nicht die Note geschickt, über die er sich nun schon so lange den Kopf zerbrach. Die Verzögerung ließ in Walter die Hoffnung keimen, dass die Gemüter in Wien sich ein wenig abgekühlt und die gemäßigten Kräfte die Oberhand gewonnen hatten.
    Während er an seinem Klavier im kleinen Salon seiner Junggesellenwohnung nahe der Piccadilly saß, dachte er darüber nach, dass Österreich weit mehr Möglichkeiten hatte, Serbien zu bestrafen und seinen verletzten Stolz zu heilen, als in den Krieg zu ziehen. Zum Beispiel könnten sie die Serben zwingen, anti-österreichische Zeitungen zu verbieten und die Nationalisten aus der Armee und öffentlichen Ämtern zu entfernen. Die Serben würden dem zustimmen. Das war zwar demütigend, aber immer noch besser als ein Krieg, den sie nicht gewinnen konnten.
    Dann könnten auch die politischen Führer der europäischen Großmächte wieder durchatmen und sich auf ihre eigenen Probleme konzentrieren. Die Russen könnten ihren Generalstreik niederschlagen, die Engländer die aufsässigen Iren befrieden und die Franzosen den Mordprozess gegen Madame Caillaux genießen, die den Herausgeber des Figaro

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