Sturz der Titanen
erschossen hatte, weil der Liebesbriefe ihres Gatten abgedruckt hatte.
Und Walter könnte Maud heiraten.
Darauf konzentrierte er seine ganze Energie. Je mehr er über die Schwierigkeiten nachdachte, desto entschlossener war er, sie zu überwinden. Nachdem er ein paar Tage über die freudlose Aussicht auf ein Leben ohne Maud nachgegrübelt hatte, war er umso sicherer gewesen, dass er sie heiraten wollte – egal, welchen Preis sie beide dafür zahlen mussten. Während Walter eifrig das diplomatische Spiel auf dem Schachbrett Europas verfolgte, schaute er sich jeden Zug zunächst einmal daraufhin an, welche Auswirkungen er für Maud und ihn hatte. Deutschland kam erst an zweiter Stelle.
Walter würde Maud heute Abend sehen, beim Dinner in Fitz’ Stadthaus und auf dem Ball der Herzogin von Sussex. Er hatte bereits eine weiße Schleife und einen Frack angelegt. Nun wurde es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Als er den Deckel des Klaviers schloss, klingelte es an der Tür. Der Diener kündigte Robert von Ulrich an.
Robert blickte wie immer säuerlich drein. Schon als sie gemeinsam in Wien studiert hatten, war er ein melancholischer, ja unglücklicher junger Mann gewesen. Seine Gefühle trieben ihn unwiderstehlich einer Minderheit in die Arme, die er als dekadent betrachtete, weil er dazu erzogen worden war: den Homosexuellen. Jedes Mal, wenn er von einem Abend nach Hause kam, den er mit Männern verbracht hatte, die genauso empfanden wie er, hatte er diesen Blick gehabt: schuldbewusst und trotzig zugleich. Mit der Zeit hatte Robert herausgefunden, dass Homosexualität genau wie Ehebruch offiziell zwar verurteilt, inoffiziell aber toleriert wurde – zumindest in gehobenen Kreisen –, und so war er inzwischen im Reinen mit sich selbst und seiner Veranlagung. Demnach musste seine säuerliche Miene an diesem Abend einen anderen Grund haben.
»Ich habe gerade den Text der kaiserlichen Note gesehen«, kam er ohne Umschweife auf den Punkt.
Walters Herz tat einen hoffnungsvollen Hüpfer. Das war vielleicht die friedliche Lösung, auf die er gewartet hatte. »Was steht drin?«
Robert reichte ihm ein Blatt Papier. »Ich habe dir den Hauptteil kopiert.«
»Wurde die Note bereits an die serbische Regierung übergeben?«
»Ja, um sechs Uhr Belgrader Zeit.«
Die Note beinhaltete zehn Forderungen. Die ersten drei entsprachen dem, was Walter erwartet hatte, und er war erleichtert: Serbien sollte liberale Zeitungen verbieten, den Geheimbund mit Namen »Schwarze Hand« auflösen und die nationalistische Propaganda unterdrücken. Vielleicht hatten die Gemäßigten ja tatsächlich den Sieg davongetragen.
Auch der vierte Punkt sah auf den ersten Blick vernünftig aus – die Österreicher verlangten die Entfernung sämtlicher Nationalisten aus öffentlichen Ämtern –, aber da war ein übler Nachsatz: Die Österreicher wollten die Liste selbst zusammenstellen. »Das ist ein bisschen hart«, bemerkte Walter besorgt. »Die serbische Regierung kann nicht einfach jeden entlassen, den die Österreicher ihr diktieren.«
Robert zuckte mit den Schultern. »Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben.«
»Da hast du wohl recht.« Um des Friedens willen hoffte Walter, dass die Serben sich darauf einlassen würden.
Aber es wurde noch schlimmer.
In Punkt fünf verlangten die Österreicher, dass die Serben bei der »Niederschlagung subversiver Kräfte« mit ihnen zusammenarbeiteten. Und in Punkt sechs, las Walter mit wachsender Verzweiflung, bestanden die Österreicher darauf, dass ihre Beamten an den serbischen Untersuchungen zum Attentat beteiligt wurden. »Dem kann Serbien unmöglich zustimmen!«, protestierte Walter. »Damit würde es seine Souveränität aufgeben.«
Roberts Gesicht verdüsterte sich noch mehr. »Wohl kaum«, erwiderte er gereizt.
»Kein Land der Welt würde diesen Bedingungen zustimmen.«
»Serbien schon. Es muss, sonst wird es vernichtet.«
»In einem Krieg?«
»Falls nötig.«
»Der ganz Europa erfassen würde!«
Mahnend hob Robert den Finger. »Nicht, wenn die anderen Regierungen besonnen bleiben.«
Im Gegensatz zu deiner, dachte Walter, schluckte die Erwiderung jedoch herunter und las weiter. Die restlichen Punkte waren auf arrogante Weise formuliert, aber die Serben konnten vermutlich damit leben: Verhaftung der Verschwörer, Maßnahmen gegen den Waffenschmuggel auf österreichisches Gebiet und ein Verbot anti-österreichischer Propaganda durch serbische Offizielle.
Aber da war noch eine
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