Sturz der Titanen
der verzweifelten Suche nach passenden Worten tippte sie mit der Fingerspitze auf die Times . »Ob es stimmt, dass Serbien siebzigtausend Reservisten einberufen hat?«
»Ich bezweifle, dass sie dort so viele Reservisten haben«, erwiderte Walter. »Trotzdem versucht Serbien, die Lage zu verschärfen. Man hofft, dass die Gefahr eines um sich greifenden Krieges Österreich vorsichtig macht.«
»Warum braucht Österreich so lange, um der serbischen Regierung seine Forderungen zu übermitteln?«
»Offiziell will man die Ernte abwarten, ehe man etwas unternimmt, das die Aufstellung von Truppen erforderlich machen könnte. Leider weiß Wien, dass der französische Präsident und sein Außenminister zurzeit in Russland sind, sodass es für die beiden Verbündeten gefährlich einfach ist, sich auf eine gemeinsame Reaktion zu einigen. Bevor Präsident Poincaré Sankt Petersburg verlässt, wird es keine österreichische Note geben.«
Wie scharf sein Verstand ist, dachte Maud bewundernd.
Unvermittelt ließ Walter die Maske förmlicher Höflichkeit fallen, blickte gequält drein und sagte: »Bitte, komm zu mir zurück.«
Maud öffnete den Mund, um zu antworten, brachte aber kein Wort hervor.
»Ich weiß, dass du mir den Laufpass gegeben hast, weil du nur mein Bestes willst«, sagte er niedergeschlagen, »aber so einfach ist das nicht. Ich liebe dich zu sehr.«
Endlich fand Maud ihre Stimme wieder. »Aber dein Vater …«
»Er muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ich kann ihm nicht gehorchen, nicht in dieser Sache.« Walters Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«
»Aber vielleicht hat dein Vater recht. Vielleicht sollte ein deutscher Diplomat keine englische Frau haben, wenigstens zurzeit nicht.«
»Dann schlage ich eine andere Laufbahn ein. Denn eine andere Frau, die ich so liebe wie dich, werde ich niemals finden.«
Tränen schimmerten in Mauds Augen.
Walter streckte den Arm aus und nahm ihre Hand. »Darf ich mit deinem Bruder sprechen?«
Sie knüllte ihre weiße Leinenserviette zusammen und tupfte sich die Tränen ab. »Sag noch nichts zu Fitz«, entgegnete sie. »Warte noch ein paar Tage, bis die Serbienkrise vorüber ist.«
»Das könnte länger dauern als ein paar Tage.«
»Dann überlegen wir uns etwas anderes.«
»Also gut. Wenn du es so willst.«
»Ich liebe dich, Walter. Was immer auch geschieht, ich möchte deine Frau werden.«
Er küsste ihre Hand. »Danke«, sagte er feierlich. »Du machst mich sehr glücklich.«
Angespanntes Schweigen herrschte im Haus der Williams in der Wellington Row, während Mam das Mittagessen kochte. Als dann alle zu Tisch saßen, redeten Dah, Billy und Gramper kaum ein Wort. In Billys Innerem wütete ein Zorn, den er nicht in Worte fassen konnte. Am Nachmittag stieg er den Hügel hinauf und machte einen meilenweiten einsamen Spaziergang.
Am nächsten Morgen kehrten seine Gedanken immer wieder zu der Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin zurück. Als er in Sonntagskleidung wartend in der Küche saß, ehe er mit seinen Eltern und Gramper in die Bethesda-Kapelle ging, um dort das Brot zu brechen, nahm er seine Bibel, schlug das Johannesevangelium auf und blätterte zu Kapitel acht. Dann las er die Geschichte mehrere Male. Mit jedem Mal wurde ihm deutlicher, dass genau die gleiche Krise, wie sie in der Bibel geschildert wurde, seine eigene Familie getroffen hatte.
In der Kapelle dachte Billy noch immer darüber nach. Als er sich umblickte, sah er Freunde und Nachbarn: Mrs. Dai Ponies, John Jones the Shop, Mrs. Ponti und ihre beiden Söhne, Suet Hewitt … Sie alle wussten, dass Ethel am Tag zuvor Ty Gwyn verlassen hatte und in den Zug nach London gestiegen war. Obwohl sie den Grund dafür nicht kannten – erraten konnten sie ihn. In ihrem Inneren hatten sie Ethel bereits verurteilt. Jesus aber verurteilte sie nicht.
Während der Lieder und Stegreifgebete gelangte Billy zu der Überzeugung, dass der Heilige Geist ihn dazu anhielt, die Verse aus dem Johannesevangelium laut vorzulesen. Als die Stunde sich ihrem Ende zuneigte, erhob er sich und schlug seine Bibel auf.
Erstauntes Gemurmel war zu vernehmen. Billy war ein bisschen zu jung, um die Gemeinde im Gebet zu führen; andererseits gab es keine Alterseinschränkung: Der Heilige Geist konnte jeden erfüllen.
»Ein paar Verse aus dem Johannesevangelium«, sagte Billy mit bebender Stimme. »›Sie sprachen zu ihm: Meister, dies Weib ist ergriffen auf
Weitere Kostenlose Bücher