Sturz der Titanen
Sie blickte Walter an. »Wie hast du Ethel gefunden?«
»Du hattest mir gesagt, sie sei zu deiner Klinik gekommen. Ich habe ihre Adresse von Dr. Greenward. Ich wusste, dass du ihr vertraust, weil du sie auf Ty Gwyn als Anstandsdame ausgesucht hattest.«
Ethel reichte Maud ein Blumensträußchen. »Ihr Brautstrauß.«
Es waren korallenrote Rosen – die Blume der Leidenschaft. Kannte Walter die Sprache der Blumen? »Wer hat sie ausgesucht?«
»Das war mein Vorschlag«, sagte Ethel. »Und Walter gefiel es, als ich ihm die Bedeutung erklärte.« Ethel errötete.
Maud begriff, dass Ethel wusste, wie leidenschaftlich sie waren, weil sie gesehen hatte, wie sie und Walter sich geküsst hatten. »Sie sind perfekt«, sagte Maud.
Ethel trug ein blassrosa Kleid, das neu aussah, und einen Hut, den weitere korallenrote Rosen schmückten. Walter musste dafür bezahlt haben.
Sie fuhren die Park Lane hinunter und näherten sich Chelsea. Meine Güte, ich heirate, dachte Maud. Und ohne rauschendes Fest und ermüdendes Zeremoniell. So war es auch viel besser – ohne Planung, ohne Gästeliste, ohne Speisefolge. Es gäbe keine Kirchenlieder, keine Ansprachen und keine betrunkenen Verwandten, die versuchten, sie zu küssen. Nur Braut, Bräutigam und zwei Menschen, die sie mochten und denen sie vertrauen konnten.
Maud vertrieb die Gedanken an die Zukunft, ihre Sorgen und Ängste. Europa war im Krieg, und alles konnte geschehen. Sie würde einfach den Tag genießen – und die Nacht.
Doch als sie die King’s Road entlangfuhren, wurde Maud nervös. Um Mut zu fassen, ergriff sie Ethels Hand. Sie erlebte eine albtraumhafte Vision von Fitz, der ihnen in seinem Cadillac folgte und rief: »Halten Sie die Frau auf!« Maud schaute nach hinten. Natürlich war weder von Fitz noch von seinem Automobil etwas zu sehen.
Sie hielten vor der klassizistischen Fassade der Chelsea Town Hall. Robert nahm Mauds Arm und führte sie die Stufen zum Eingang hinauf. Walter folgte mit Ethel. Passanten blieben stehen und schauten ihnen nach. Ein Brautpaar war immer gern gesehen.
Im Inneren war das Gebäude auf viktorianische Art extravagant mit farbigen Bodenfliesen und Gipsreliefs an den Wänden verziert. Maud kam es passend vor, hier zu heiraten.
In der Eingangshalle mussten sie warten. Um halb vier hatte eine andere Trauung begonnen, die noch nicht zu Ende war. Zu viert standen sie in einem kleinen Kreis, doch niemandem fiel ein Gesprächsthema ein. Maud sog den Duft ihrer Rosen ein, der ihr zu Kopf stieg; sie fühlte sich ein wenig berauscht, als hätte sie ein Glas Champagner getrunken.
Ein paar Minuten später kam die andere Hochzeitsgesellschaft aus dem Trauzimmer. Die Braut trug ein Alltagskleid, der Bräutigam die Uniform eines Heeressergeanten. Vielleicht hatten auch sie sich wegen des Krieges zu einer raschen Heirat entschieden.
Maud und ihre Begleitung gingen hinein. Der Standesbeamte saß an einem schmucklosen Tisch. Er trug einen Gesellschaftsanzug und eine silbergraue Krawatte. In seinem Knopfloch steckte eine Nelke. Neben ihm saß ein Schreiber in einem Straßenanzug. Sie gaben ihre Namen als Mr. von Ulrich und Miss Maud Fitzherbert an. Maud hob den Schleier.
Der Standesbeamte fragte: »Würden Sie uns bitte einen Beleg Ihrer Identität vorlegen, Miss Fitzherbert?«
Maud wusste nicht, wovon er sprach.
Als der Beamte ihren fragenden Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Ihre Geburtsurkunde vielleicht?«
Natürlich hatte Maud ihre Geburtsurkunde nicht dabei. Sie hatte nicht gewusst, dass sie benötigt wurde; außerdem hätte sie sich die Urkunde unmöglich beschaffen können, denn Fitz bewahrte sie zusammen mit anderen Familiendokumenten, beispielsweise seinem Testament, im Panzerschrank auf. Panik erfasste Maud bei dem Gedanken, die Hochzeit könnte platzen.
»Ich glaube, das hier genügt«, sagte Walter und zog ein frankiertes und abgestempeltes Briefkuvert aus der Tasche, das unter der Anschrift der Säuglingsklinik an Miss Maud Fitzherbert adressiert war. Walter musste diesen Brief mitgenommen haben, als er Dr. Greenward aufgesucht hatte. Wie klug er war.
Der Standesbeamte gab den Briefumschlag kommentarlos zurück und erklärte: »Es ist meine Pflicht, Sie an die ernste und bindende Natur des Gelöbnisses zu erinnern, das sie nun ablegen werden.«
Walter richtete sich kerzengerade auf. Jetzt ist es so weit, dachte Maud; jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sie war sich ganz sicher, dass sie Walter heiraten wollte; vor allem war sie
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