Sturz der Titanen
Durch die großen Fenster schien die Nachmittagssonne auf die bunt bezogenen Sessel und Sofas.
»Kommt, Leute, machen wir es uns gemütlich«, sagte Walter gut gelaunt.
Während Maud und Ethel die Suite inspizierten, kam Robert herein, gefolgt von einem Kellner mit Champagner und Gläsern auf einem Tablett. Walter entkorkte die Flasche und schenkte ein. Als jeder ein Glas hatte, sagte Robert: »Ich möchte einen Toast ausbringen.« Er räusperte sich, und Maud erkannte belustigt, dass er zu einer Rede ansetzte.
»Mein Cousin Walter ist ein ungewöhnlicher Mann«, begann Robert. »Er wirkte immer schon älter als ich, obwohl wir gleichaltrig sind. Als wir zusammen in Wien studierten, habe ich ihn niemals betrunken gesehen. Während wir anderen in die Stadt zogen, um gewisse Etablissements zu besuchen, blieb Walter zu Hause und saß über seinen Büchern. Ich dachte damals, dass er möglicherweise zu den Männern gehört, die Frauen nichts abgewinnen können.« Robert lächelte schief. »Dabei bin ich selbst einer von dieser Sorte. Aber das ist eine andere Geschichte. Walter liebt seine Familie und seine Arbeit, und er liebt Deutschland. Aber noch nie hat er eine Frau geliebt – bis jetzt!« Robert grinste spitzbübisch. »Er hat sich verändert. Er kauft neue Krawatten. Er stellt mir Fragen darüber, wann man eine Frau küsst, ob Männer Eau de Cologne tragen und welche Farben ihm schmeicheln. Als wüsste ich , was Frauen mögen! Und das Allerschlimmste ist«, Robert machte eine dramatische Pause, »er spielt Ragtime.«
Alle lachten. Robert hob sein Glas. »Trinken wir auf die Frau, die solche Veränderungen hervorgebracht hat – die Braut!«
Sie tranken. Zu Mauds Erstaunen ergriff Ethel dann das Wort. »Es ist an mir, den Toast für die Braut auszubringen«, sagte sie, als hätte sie schon ihr Leben lang Reden gehalten. Wie kam ein Dienstmädchen aus Wales an ein solches Selbstvertrauen? Dann fiel Maud ein, dass Ethels Vater ein Prediger und politischer Aktivist war. Offenbar folgte die Tochter nun seinem Beispiel.
»Lady Maud ist anders als alle vornehmen Damen, denen ich je begegnet bin«, sagte Ethel. »Als ich auf Ty Gwyn als Küchenmädchen angefangen habe, war sie die Einzige von der ganzen Familie, die mich beachtet hat. Hier in London tuscheln die vornehmen Damen über den Verfall von Sitte und Moral, wenn junge, unverheiratete Frauen ein Kind bekommen, Lady Maud aber bietet ihnen praktische Hilfe an. Im Eastend verehrt man sie fast wie eine Heilige. Aber sie hat natürlich auch ihre Fehler.«
Was kommt jetzt, fragte sich Maud.
»Sie ist zu kühl, um auf einen normalen Mann anziehend zu wirken«, fuhr Ethel fort. »Sie hat sämtliche heiratsfähigen Männer Londons mit ihrer Schönheit und ihrem Charme in Bann geschlagen, um sie dann durch ihren nüchternen Verstand und ihren politischen Realitätssinn wieder zu verscheuchen. Mir ist schon vor längerer Zeit klar geworden, dass nur ein ganz besonderer Mann sie gewinnen könnte. Er müsste klug sein, aber vorurteilslos. Stark, aber nicht beherrschend. Ein Mann mit moralischen Grundsätzen, aber kein Moralapostel.« Ethel lächelte. »Ich dachte immer, einen solchen Mann gibt es nicht. Aber dann, im Januar, kam er im Bahnhofstaxi von Aberowen den Hügel hinauf nach Ty Gwyn.« Sie hob das Glas. »Auf den Bräutigam!«
Sie tranken wieder, und Ethel nahm Robert beim Arm. »Jetzt können Sie mich zum Essen ins Ritz ausführen, Robert«, sagte sie.
Walter schien überrascht zu sein. »Ich dachte, wir speisen hier alle zusammen.«
Ethel blickte ihn schelmisch an. »Seien Sie nicht blöd, Mensch«, sagte sie und ging zur Tür, wobei sie Robert mit sich zog.
»Gute Nacht«, sagte Robert, obwohl es erst sechs Uhr war. Sie gingen hinaus und schlossen die Tür.
Maud lachte. Walter sagte: »Diese Haushälterin ist wirklich sehr klug.«
»Ja, Ethel versteht mich«, sagte Maud. Sie ging zur Tür und drehte den Schlüssel um. »So«, sagte sie. »Auf ins Schlafzimmer.«
»Möchtest du dich allein ausziehen?«, fragte Walter, der plötzlich unruhig wirkte.
»Nicht unbedingt«, sagte Maud. »Du kannst mir dabei ja zuschauen.«
Er schluckte. Als er dann antwortete, klang seine Stimme heiser. »Gern«, sagte er und hielt die Schlafzimmertür auf. »Sehr gern.«
Trotz ihrer zur Schau gestellten Kühnheit war Maud schrecklich nervös, als sie sich auf die Bettkante setzte und die Schuhe abstreifte. Seit sie acht Jahre alt gewesen war, hatte niemand sie mehr
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